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Tom Liwa & Florian Glässing – Lopnor

Tom Liwa – Ich reite ein Pferd auf dem sonst nur Frauen reiten

(Normal Rec.)

 

 

Tom Liwa wieder in Berlin. Ich besuchte ihn im abgedunkelten Backstage-Bereich. Es gab einiges zu besprechen. Zum Beispiel: „Kylie und Jochen“. Aber Distelmeyer kennt das Lied natürlich und kann damit leben. Oder: das kleine Hexenhaus am Rande von Duisburg. Auf meine Frage, ob Glässing nun auch bald eine eigene Platte draußen hat, meinte Tom, der ist noch jung, das wird schon. Eine gemeinsame, angenehme Zigarette vor der Tür. Dann saß er da ganz allein auf breiter Bühne und erzählte seine schön-traurigen Geschichten. Die aus dem Leben, wo’s auch mal weh tut. Es war völlig unmöglich zu entkommen. Wir waren die Protagonisten des Märchens, das größer war als wir. Sehr dicht, sehr prägnant. Lieder von einer Jugend auf dem Rücksitz. Poetischer Realismus.

Denn hier geht’s um alles. Und den ganzen Kram: Herzbruch, Verlieren, Schönheit, Stolz, Verlust und bei sich bleiben. All das singen zu können und das auch auszuhalten. Manchmal kann man einfach nicht mehr zurück, denn es gibt immer irgendwas, was wirklich aussieht. Musik wie ein Orion aus Perlmutt. Alles ist offen, wund und schön. Da geht das alte Herz wieder über Bord, diesmal für immer. Und dann wurde ich wach und war allein. Es geht immer um den Text. „Meine Biographie ist kein Problem“ und „wir gehören ans Meer“ singen sie. Diese stillen Texte wissen soviel von uns, auch wenn wir tapfer tun und uns verstellen.

 

Florian Glässing ist der Cowboy aus dem Nichts (Hamburg, Neuseeland, Frankreich, Berlin). Und kennt die schmerzhafteren Lieder, die bitteren Worte. Tom Liwa ist der unerreichbare Pate. (Duisburg und die Welt). „Lopnor“ ist ein Kratersee in Nordwest-China, der heute von Atombombentest verseucht ist. Die Platte ist ein Manifest. Aus Ehrlichkeit und nicht Drumrum-Singen wollen. Früher hieß das noch Poesie. Glässing bekennt: „Meine größte Angst ist, daß ich euch langweile mit jeder Zeile“. Nö! Denn was hat das Leben uns versprochen? Fettnäpfen & Schnäppchen? So läuft das eben nicht. Wem gehört der Herbst und wem der Sommer? Sklaven eurer Kompromisse. Kinder, es gibt nur ein Leben für jeden. Und wir wollten doch da sein, wo die Wunder geschehen. Schattig gespielt, langsam und wahr. Listig instrumentiert. Das Ende vom Lied in den Kopf. Da war keine Sprache mehr, nur Vertrauen. Zwei kundige Bänkelsänger geben sich als Trotz-Individualisten, sie spiegeln das Kleine, Alltägliche als gültiges Großes und Ganzes.

 

Liwas neue Solo-Platte mit diesem schrecklichen Titel, klingt karger, reduzierter. Denn die Naivität, das Staunen & Wundern kann man auf seinen früheren Platten hören. Älter werden hat ja auch was mit Wissen, Erfahrungen, Würde und Auskennen zu tun. Schon der erste Song „Hinter den Sternen“ geht „einmal durchs Leben und zurück“. Liwa singt zwar aus sich, aber er singt von uns. Er weiß um den Schoß des Vertrauens wie kein anderer hier. Man wird bei dieser Art von Musik so endlos traurig und tapfer und kann plötzlich mit den Engeln reden. Ganz einfach. Ein ewiges Ende. Oder eben nicht. Kein Blatt vorm Mund. Das hat er lange vorher schon in „Ganzseitige Anzeige gegen Titelstory“ besungen. Diesmal redet er in „Kylie und Jochen“ Klartext. Wir reden hier von Minogue & Distelmeyer und „schwule, kleine Möchtegern-Celebrities.“ Oder: „Musik verbindet und trennt wie Handys“. Es geht immer um Ehrlichkeit, Zweifel und Angst. Aber das ist kein Spiel, denn „wenn wir mittags schon anfangen zu trinken, dann kann es uns gelingen die Politik zu verdrängen.“ Er kennt die „Ostsee Eleven“ und sah „Dresden glitzert am Boden“. Wie einfach das doch wäre, den Winter aus dem Gitarrenbauch wegzusingen, all den Frost zwischen den Menschen. Stille Lieder erzählen vom immerwährenden Suchen und dem vielleicht irgendwo Ankommen. Wer will. Es geht nicht um Trauer, sondern um Selbstbewußtsein in jedem kleinen verschissen, langweiligen Alltag, denn Flaschen gehen dauernd zu Bruch. Tom Liwa weiß um den Balzruf der geheimnisvoll Reisenden und hat den Vorsprung des Träumers. Oder wie er singt: „Es ist die Aufgabe der Dichter, an die Abwesenheit der Unschuld zu erinnern“. Zwei Platten, die einen in den Arm nehmen. Ein Blick in den Spiegel und wir durften dabei sein. Zwei Platten, die man nicht beschreiben kann. Denn sonst müßte man auf immer verzweifeln oder sein Leben wirklich neu anfangen.

 

Electric Galenza   11/2002    ZONIC  Greifswald