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AG GEIGE - Trickbeat

(Zong)

Trickbeat.jpgwir leben in tagen von zeychen und wundern/ wo sind sie hin/ keiner kann sie sehen.

So beginnt eine Schallplatte, auf die viele Menschen schon lange gewartet haben. Die AG Geige genießt schon seit ca. Zwei Jahren Kultstatus, nur fehlte nach ihren ersten fulminanten Auftritten die erste LP, so daß viel von dem alten Material verschütt geht. Die jetzt vorliegende Scheibe bietet bis auf wenige Aufnahmen neuere Titel an. Das Schöne an der AG Geige ist ihre Eigenwilligkeit, diese südliche Eigenbrödelei. Stoisch und unbeirrbar durchschreiten sie ihre Gassen und Hohlwege voller Hall und Echoes, immer der Welt zugewandt. Die elektrischen Gerätschaften kolabieren zu einem konstruktiven Konglomerat. Es ist nich Elektronic Body Music, nicht Dance- und nicht Rock-Musik und doch irgendwie alle zusammen. Das hat Groove, Bewegung und Frische, das pulst und atmet voller Dynamik. Trick-Beat eben.

Die vier Karl-Marx-Städter zeigen mit ihrem Sound, wie lebendig und ungezwungen elektronische Musik klingen kann. Fein gemacht! Der Geige ging es bei ihren Produktionen in den Rundfunk-Studios vornehmlich darum, im Wust der Apperatschaften nicht unterzugehen und mit schlappem DDR-Sound wieder herauszukommen. "wer bleibt der mag versauern/ wir ziehn hinaus ins all/ flieg schneller silberraumschiff/ nur fort vom erdenball... wir hinterlassen welten/ die uns'ren sind es nicht". Nein, da sollte am Ende schon internationales Niveau herausschauen. Der Gruppe halfen da besonders Christian Ulrich und Lutz Schramm bei den Aufnahmen. Nun hatte ja diese Arbeitsgemeinschaft genügend brauchbare Ideen, augenfällig dabei das engagierte Gitarrenspiel Frank Bretschneiders. Herzallerliebst auch das leichte Sächseln von Ina Kummer auf dem "Möbius-Band", während Jan Kummer durch seine subtile und süffisante Interpretation glaubwürdig in die gesungenen Texte und Rollen taucht. Torsten Eckhardt ergänzt diesen Verbund. Jan und Ina haben ihrem gemeinsamen Sohn den Titel "Felix" gewidmet: "es sitzt auf einem stein aus stahl/ spielt mit computern zweiter wahl/ und hat zur kron' des ganzen dann/ ein grünes schafwoll-shirt an". Knödlig! Sowieso muß man konstatieren: die Texte der LP sind das Allerköstlichste. Lecker. Die Geigen sehen viel und merken alles, bloß heben sie dann nicht den schrumpligen Zeigefinger und lamtentieren und deklamieren, nein, diese Erkenntnisse werden durch die Linse der Eitelkeiten und das Prisma der Desillusion ironisch gebrochen: "ich tue so als wäre nichts gewesen/ jetzt weiß er endlich wer ich wirklich bin/ der gasmann/ und wegzugehen von hier hat auch keinen sinn... dies ende hätt ich nicht im traum erwartet/ schließlich hieß "schöner leben" mein programm."
Nun sind sie ja alle hierzulande vor sich hingewachsen, kennen also auch die leidige Geschichte der Rockmusik. Zwar ist auf dieser Platte ihre Kerth-Coverversion "Nachts unterwegs" nicht gebannt, aber herrlich ihre "Fingerwalze", die alten Bettina-Wegner-Fans urigen Spaß bereiten dürfte: "und die kleinen finger ziehen durch die welt/ wollen alles kaufen: für sehr wenig geld". Die AG Geige hat keine Message zu verkünden, aber sie hat eine Haltung. Eine Haltung als Künstler. Die Musiker sind gleichzeitig Maler und Grafiker, sie wirken als Gruppe in einem gemeinsamen Kunstkonzept. So zeigen sie live seblstproduzierte 16mm-Kurzfilme, die Videoclip ähnlich schnelle Foto-Schnitte oder Bildfolgen samt Übermalungen montieren und abstruse Bild-Welten entstehen lassen. Ihre buntschrulligen Fantasy-Kostüme entwerfen sie natürlich auch selbst. Und eine Haltung als Menschen. Da nehmen sie schon Bezug auf das gegenwärtige Getriebe und Geschiebe: "ein kaufhaus müßte man sein... riesige schwingtüren pressen die leute automatisch rein/ wie fette schwarze suppe/ geleitet von verstockten verkäuferinnen/ zu enormen fahrstuhlschächten."
Die Geige versteht es meisterhaft, durch ihre assoziativen Lyrics Bildsplitter wie auch visuelle Landschaften im Hirn zu bauen. Sie projizieren die Filme direkt in den Kopf. "Die flüsse schwellen an/ die ströme drängen durch die straßen/ bürgersteige und bahnübergänge werden überschwemmt/ die nässe treibt die elektrizität aus den häusern und / die menschen müssen mit riesigen stelzen einholen gehen/ vom himmel stürzen gekochte eier, durchschlagen die autodächer/ und füllen die senkgruben." Endlich eine Formation, die nicht gebeugt den knöchernen Alltag besingt, nein: die AG Geige hat den Mut zu Visionen!

Ronald Galenza April 1990 JOURNAL Art & Action 4/90 S.44