HERBST IN PEKING

„Was bedeutet denn überhaupt eurer Name“, fragte aufgeregt der Reporter einer Leipziger Zeitung zwischen Tanzsaal, Mülltonnen und Funzellicht. „Oh nein, nicht schon wieder!“, gibt Rex Joswig entnervt auf. Um ihn zu entlasten, hier die Story der Namensgebung: Zuerst war da ein Buch des französischen Dichters Boris Vian. Der Titel: „Herbst In Peking“. Nun hat der Inhalt dies hintergründigen Romans des ungekrönten Königs der Pariser Nachkriegskultur zwar weder etwas mit dem Herbst noch mit Peking zu tun, sondern mit Liebe – aber für Rex und Torsten war klar: sollten sie jemals eine Band haben, wird die HERBST IN PEKING heißen!


HIP-KassettencoverIm Frühsommer 1987 wurde die Band gemeinsam mit Verch (dr) und Alex (git) in einer Baracke geboren. Tagsüber mit dem schwarzen Auto und Billig-Bier im Fond durch Neubrandenburg; die eigenen Songs hundertmal gehört. Der alte Rock’n’Roll-Traum, hier im Wolga, nicht im Cadillac. Abends dann der Rausch der Instrumente! Dazu muß man brennen, das muß weh tun! Ihre Zukunft hieß HIP. Auf der holprigen Schlagloch-Road nach Einstufungshausen fuhr man gleich noch an der chinesischen Botschaft mit ran. Der Kulturattaché war sehr freundlich, entgegenkommend: „Herbst in Bejing – das klingt gut. Ist eine große Kompliment für unser Land. Was ist Problem?“

Herbst in Peking-Musik ist psychedelisch und halluzinativ. Logisch, wenn Herz und Hirn Velvet Underground, Doors, Can, Cpt. Beefheart und Iggy Pop geschnüffelt haben. Solides Fundament. Aber kein Dümpeln in der Vergangenheit. Also mischen sie Punk, New Wave, Gitarrenrock, russische Folklore, Estradenklänge und Walzer mit jenen fundamentalen Ingredenzien. Jeder Songvorschlag wird erstmal umgesetzt, dann doch oft wieder verworfen. Eineinhalb Stunden Diskussion um die Spielliste vorm Konzert, die dann auf der Bühne sofort umgeschmissen wird. Rex: „In der Band sind alle irgendwie Psychopathen, bis auf den Baßisten, der ist relativ gefestigt.“ Mircea Ionascu ist auch noch nicht lange dabei. Ihnen geht es überhaupt nicht um den üblichen Rock-Zirkus, viel eher um den Mythos der Musik. Die fließt wie ein unsichtbarer Strom.

Live werden neuerdings einige Songs durch Saxophon-Einlagen unnötig breit geklopft. Nervt, jede zweite Combo baut jetzt ein Sax ein, möglich verquast. Weniger ist oft mehr. Das selbstgebaute Zinkophon klingt da schon interessanter.

Eine breitere Öffentlichkeit kann all das aber gar nicht mit vollziehen; keine Platte, keine Rundfunkaufnahmen, keine Promotion – das alte, zeitlose Lied. So kommen auch die Texte, die der Band sehr wichtig sind, nur schwer beim Hörer an. Sie sind sehr lyrisch, er werden Worte benutzt, die noch leben, atmen, strahlen. Bilder wachsen im Kopf. Assoziationen. Bei jedem Gig das gleiche: „Keiner kennt uns, denn die Songs kann man nicht als Single zu hause auflegen und dann im Konzert mitsingen“, beklagt Rex. Sie fangen immer wieder bei null an. Dabei sind „Bagdadbahn“, „Still alive“, „Der letzte Walzer“ oder „Good times“ Titel, die sich auch gut auf einer EP verkaufen würden.

HIP-Single-Cover

Dichter wie Vian, Prevert, Lichtenstein, dazu Torsten und Rex liefern die Texte. Immer auf der Seite der Guten, der Gerechten, aber nicht naiv. „Eine gewisse Schuldigkeit haben wir in dieser Zeit einfach zu erfüllen. Wir wären gern noch politischer, aber es ist schwierig, politisch zu singen, ohne plump zu wirken“, meint Rex. Sie lassen Dinge nicht unkommentiert, die sie betroffen machen. Und: „Die Leute wollen wissen, was gesungen wird. Die holen sich schon was aus den Texten raus, selbst wenn du nicht eindeutig bist.“  Ob deutsch oder englisch, hängt vom Titel ab, denn manchmal paßt Englisch einfach besser. Apropos Fremdsprachen: Bulgarisch in „Haskovo“ und russisch in „Movie stops tomorrow“ singt hier wohl keine andere Band. Noch ganz anders als die anderen anderen. Rex Joswig strahlt nicht eine gewollte Coolheit aus, und auch keine sympathische Amateurergriffenheit. Und kann dabei so zittrig zynisch singen: „Ich trinke mit System/ auch wenn’s mir nicht schmeckt./  Ich trinke/ damit ich nicht sag/ ich mach Schluß.“ Er verkörpert Tradition und Innovation. Geradezu logisch, daß gerade er, gemeinsam mit Alex, beim Weißenseer „Beat Inn“-Festival den kurz zuvor verstorbenen Mythos Nico mit zwei Velvet Underground-Titeln ehrte. Herbst in Peking haben eine Vorbereiterfunktion für Vergangenheits- und Zukunfts-Bewältigung.

 R. Galenza        Unterhaltungskunst         Heft 12/1988    S. 10