Der Expander des Fortschritts
Der Expander des Fortschritts kommt, na dann stellen wir doch gleich mal die Stühle in den Saal - so denken viele Clubchefs. Ganz falsch, meint die Band dazu und fragt sich wieder einmal: "Sind wir verwirrte Verwirrer, die sich an Wirrköpfe wenden? Oder reisen wir als Aufklärungszirkus durch dieses kleine Land und treten offene Ohren ein?" (aus dem Bandinfo) Dieser Expander macht sich schon sehr viel genauere, kritische und tiefgreifende Gedanken um gesellschaftliche Probleme, um teilweise tabuisierte Themen. Mancherorts gelten sie deswegen gleich als Intellektuellen-Combo, zumal auch Texte von Brecht und Heiner Müller auftauchen. Aber: "Wir haben ein Thema, und das wollen wir bewältigen, künstlerisch und inhaltlich. Davon gehen wir aus, nicht von bestimmten Zielgruppen oder eventuellen Konsequenzen oder Publikumsreaktionen", erklärt die Band.
Der Expander turnt viel lieber auf Rockbühnen und in Clubs herum als in Galerien. Obwohl sie 1986 so angefangen haben. Uwe Baumgartner (Sprechen, Singen, Einmischen) beschloß mit Mario Persch (Klampfen, Singen, Lärmen) Musik zu machen; sie experimentierten mit diversen Tapes. Dazu kamen Eckehard Binas (Tasten, Röhren) und wenig später Susanne Binas (Röhren, Tasten, Hauchen, Singen), die, um die Eifersucht auf das tolle, neue Männer-Projekt zu besänftigen, zu Weihnachten ein blinkendes Saxophon geschenkt bekam. Anfangs interessierten sie sich eigentlich mehr für die Klänge und Sounds, daraus wuchsen dann aber richtige Stücke mit klaren, dichten Strukturen wie "Der fremde Freund". Inzwischen war der Trommler Jörg Beilfuß hinzu gestoßen, der aber als anspruchsvoller Musiker mit den bandtypischen Sound- und Tape-Basteleien so seine Schwierigkeiten hatte. "Wir sind ja als Band nicht organisch gewachsen, sondern jeder hatte schon eine ausgeprägte musikalische Biographie, wodurch sehr unterschiedliche Einflüsse zusammen gekommen sind", beschreiben sie.
Diese innovative Verschiedenheit macht die Einzigartigkeit des Expanders aus, allerdings sitzen sie mit ihrem Konzept zwischen allen ästhetischen Stühlen. Allgemeines Urteil: kein richtiger Rock, kein Jazz, keine Liedermacher, keine Klassiker. Dadurch geht ihnen so manche Fördermaßnahme verschütt, sie haben viel mehr Ideen als Geld. Groß geworden sind auch sie im Umfeld der anderen Bands. "Durch dies ideologische Glocke, die über die anderen Bands gestülpt wurde (oder die sie sich letztendlich selbst aufgesetzt haben), kommt es zur großen Geste der allgemeinen Verbrüderung, anstatt erstmal zu sagen, wir sind auch untereinander noch ganz anders und verschieden. Da ist doch ein sehr breites Spektrum, da fehlt einfach die Differenzierung", kritisieren sie. So setzen sie sich mehrdimensionalen Erfahrungen aus und arbeiten einzeln oder als Gruppe an verschiedenen Projekten mit. Neben dem Experimentieren und Ausprobieren geht es ihnen vor allem um mehrgleisiges Denken und Arbeiten, ums Offen-Sein. Sie haben am Theater in Greifswald für das Stück "Jochen Schanotta" von Georg Seidel die komplette Musik eingespielt, die reicht von Geräuschen bis zu einem Discostück! Gegenwärtig schaffen sie für die Akademie der Künste eine Video-Arbeitsdokumentation über die Gruppe Cassiber.
Der Expander spannte sich und schuf einen Fortschritt: "Blanco Check", den sie als Dokumentations- und Kommunikations-Zentrum für Musiker, Bastler, Tüftler, Medienleute und Veranstalter verstehen. Hier kann man unbekannte Sachen vorstellen, kennenlernen, neue Projekte anschieben, und vielleicht wächst sogar ein eigener kultureller Kontext, Verständigung daraus. Geplant ist auch ein Soundtrack zu einem Dokumentarfilm über Eheprobleme in der DDR.
Zupaß kommt ihnen da schon die wissenschaftliche Tätigkeit von Uwe und Susanne im Forschungszentrum Populäre Musik an der Humboldt Universität Berlin. Uwe: "In diesem Wechselverhältnis von theoretischem Wissen und dem Touralltag sind wir selber erstmal Versuchspersonen. Aber man hat schon einen etwas anderen Blick auf viele Dinge, weil der Kopf anders denkt, wenn man ständig auf das Einerlei der Veranstaltungen gestoßen wird. Hinzu kommt natürlich die empirische Anreicherung bei den Tour-Autofahrten und Konzerten, die ganzen sozial-kulturellen Erfahrungen."
Klappe: Expander der Neue. Jörg Beilfuß ist ausgestiegen, neu sind Thomas Görsch (drums) und Stefan Schüler (bass, ehemals die anderen). Der Expander wird sich dehnen, spannen, strecken und schwingen, einiges wird sich im Herbst ändern. Jetzt wirkt also eine richtige Rhythmusgruppe am Forschritt mit, dadurch haben die anderen die Hände und den Kopf frei für mehr Effekte und Ideen. Natürlich soll das neue Programm komplex und geschlossen bleiben, aber es soll auch mehr federnde Grooves, mehr Leichtigkeit und Rhythmus haben. Dieses neue, frische Material soll auch auf einer Amiga-LP erscheinen, denn an den "Besten Jahren des Expanders" auf Platte haben sie nun wirklich kein Interesse. Wir denken, wir können uns auf diesen Herbst-Expander als eine der wichtigsten und aussagekräftigsten Kapellen dieses Landes ehrlich freuen, auch wenn sie abwiegeln: "Wir können uns schon ein Bild machen, nur sind wir noch nicht mit drauf...". Alles klar?
Ronald Galenza Journal für Unterhaltungskunst 9/89 S. 8-9