Die Art - Von der Zucht zur Art
Vor der Kneipe lungern die obligatorischen Fahrräder und Mopeds herum, ein paar Autos. Im Gastraum hocken einige dumpf vorm Bier, die Masse bedrängt Tür und Ordner, um Einlaß heischend. Wir sind in Lugau, einem kleinen Dorf bei Doberlug-Kirchhain - einem der rührigsten und aktivsten Zentren für neue Beatmusik! Hier spielen, in der aufopferungsvollen Regie von Alex Kühne, im großen Kneipensaal (Sprelakattische, Kugellampen, Klinkerzierrat und als Bühnendekoration Weinlaub aus Holz und Plaste - Ornament als Kitsch) Monat um Monat die neuen Bands. Da hat sich in den umliegenden Orten und Städten eine ganz eigenständige Szene mit allen Ritualen und Stilen entfaltet.
Heute in Concert: Die Art! Die vier - Christoph Heinemann (b, voc), Holger Oley (voc), Thomas Stephan (dr) und Thomas Gumprecht (g) - kommen gern, denn hier tanzt der Bär, kennt man sie und ihre Musik. Vor 500 Leuten macht's halt Spaß. Zusätzlich gibt es direkt zum Konzert den Stummfilmklassiker "Das Cabinett des Dr. Caligari", der durch die wuchtigen Gitarren der Band ganz neue, andere Schärfe und Expressivität gewinnt. Der Songtext "Ich bin häßlich/ du bist häßlich/ zusammen werden wir schöner sein" paßt hier genau. Statt Groupiebettgeflüster - übernachten im engen, ungeheizten Wartburg: nervöse, nasse Nebel-Nacht.
Die Art kommt aus Leipzig, wo ein nicht gerade günstiges Klima für die Neutöner herrscht. Das riesige Neubaugebiet Leipzig-Grünau bietet zwar potentielles Publikum für diese Musik, aber dort stampft die Disko-Walze alles platt. Zwar hilft die IG Rock jungen Bands, aber der Leipziger Szene fehlt ein fester Klub, ein Zentrum. Einige froh gestartete Gruppen (Zorn, Mad Affair) haben sich zu den Akten gelegt und im Leipziger Allerlei köcheln jetzt mehr Gerücht, Neid und Mißgunst. Um so mehr zu loben ist die Zähigkeit dieser Art, da nicht unterzugehen, sondern heute zu den Wegbereitern, Dabeigebliebenen und Vorreitern der neuen Klänge zu gehören, neben wenigen anderen Kapellen. "Im Moment schein es ja so, als ob mit einem Schlag massenhaft neue Bands da seien. Aber es ging ja alles sehr klein und viel, viel schwieriger los. Wir haben überhaupt erstmal eine Basis und Voraussetzungen für die jetzigen Gruppen geschaffen", meint Christoph Heinemann dazu. Sie wurden Ende 1883 durch die Band Wutanfall, dem Initiator für die Leipziger Szene, angeregt, selbst Musik zu machen. Zwar konnte man kein Instrument spielen (streng nach Vorbild), aber dann saß man plötzlich an der Schießbude und haute einfach auf die Pauke.
Hier nun endlich auch mal eine richtige Garagenband, was sich aber mehr auf ihren Proberaum für knapp ein Jahr bezieht, denn auf ihren Sound. Sie nannten sich anfangs Die Zucht - aber so ging das nicht. "Es wurde uns dringend nahe gelegt, den Namen zu ändern. Ob der denn so wichtig wäre...?" erinnert sich Thomas Stephan. So wurden aus den unartigen Züchtigen die unzüchtigen Artigen.
Die Art wird wohl den vielen Gruppen folgen, die von auswärts in die Hauptstadt umgezogen sind, um bessere Chancen zu haben. Nicht nur, um nach einer späten Probe auch noch ein Bierchen zischen zu können, sondern vor allem deshalb, weil hier die Medien und Instanzen residieren. So wurde in Berlin auch eine "Parocktikum"-Session aufgezeichnet. Davon wurden einige ihrer deutschsprachigen Titel für Wertungssendungen dem Rundfunk angeboten, das Ergebnis: zu düster, schwermütig, negativ.
Das ausgewogene Verhältnis von Text und Musik? Thomas Stephan dazu: "Für mich steht die Musik im Vordergrund, Ich würde nie Kompromisse des Textes wegen eingehen wollen. Die Musik muß die Stimmung und das Gefühl, das wir in den Song legen, rüberbringen." Der Text als sinnvolle und unverzichtbare Ergänzung, nicht als Gedicht. Nachdem sie von ihrem Keyboard das Kabel gekappt haben, ist ihr Sound härter geworden, trockener, straffer; weg vom Düstermänner-Klang. Die Art ist eine der vielen Bands, die ihre musikalischen Möglichkeiten noch gar nicht voll ausgeschöpft haben. Da werden manche Titel überladen, schnell noch ein Break, hier ein Tempowechsel, da ein neues Thema - opulente Verzettelung. Was vielen fehlt: der Mut zum spannenden, einfachen Song. Wichtig für die Gruppe war die Erfahrung, mal auf einer großen, technisch modernen PA zu spielen, z.B. beim Berliner Rocksommer oder bei "x-mal! Plus", einer neuen Konzertreihe. Denn da kann man sich endlich einmal nur auf sich selbst und sein Instrument konzentrieren, hat nicht den Dauerstreß wegen klappriger Anlagen und blechernem Sound. Besseres Rocken. Christoph Heinemann hat einen Traum, einen Wunsch: einmal eine gut produzierte eigene Single auf dem harten, internationalen Markt ausprobieren zu können...
Galenza/ Fischel: März 1989 Journal für Unterhaltungskunst 3/89 S. 16-17