Tocotronic - Neues vom Trickser

 

Arena, Berlin – 31.10.2002

 

Alle sicheren Quellen verkündeten, in der Arena geht es immer pünktlich los. 20 Uhr verhieß jedes Revolverblatt. Also checkten wir pünktlich ein und waren von allen guten Geistern verlassen. Jeder in der Meute hatte offenbar einen Listenplatz als Gast, selbst „Herr Lehmann“ aka Sven Regener reihte sich tapfer ein. In der klammen Karten-Kemenate froren Christiane R. (Britta/ Lassie Singers) und Chrissie (Ex-V2/ Labels). Die Zeit stand still, das Volk begehrte nicht auf , aber Einlaß. Auf dem schwarzen Fluß zogen die Nachtboote der Trunkenheit ihre Bahn. Von gegenüber leuchtete das neue Speicherhaus von „Universal“, die lassen ja nachts extra die Musikindustrie-Angeber-Leuchten an. Böse fußkalt, das Berlin Anfang November. „Hi Freaks!“, knöcheltief im Dosenpfand.

 

Irgendwann doch in der Arena, betrat ein lustiger Gesell die Bühne. Das war Turner und fiel nicht weiter auf. Ganz allein die Vorband zu sein, muß hart sein. Aber der hatte eine Idee, endlich ein Mann mit Visionen. Denn vor Turner war schon ein anderer Typ on stage, winkte lässig ins Publikum, griff sich eine Gitarre und schrubbte los. Das alles passierte auf Film, als Einspiel. Wirklich cool. Und der blieb auch, bis zum Schluß. Schmiß sich ein Sampler um und bearbeitete die Saiten. Turner, pfiffige Idee, das hatte Stil. Turner selbst war irgendwie nett, irgendwie auch nicht schlecht und irgendwie egal.

 

„Neues vom Trickser“: Völlig überraschend betraten Toctronic doch schon 22.30 Uhr die Bühne. Überpünktlich nachgerade. Voll die Rock-Angeber Nummer! Verarsche pur, wir sind hier aber nicht in Hamburg, Dirk. 2000 Trainingsjacken und Schlaffhosen hatten wacker zweieinhalb Stunden Langeweile ausgehalten, um die stilsicheren Dandies rocken zu sehen. „Ein Wald aus Zeichen“  Hallo Berlin, Köln, Mannheim, Ägypten, der übliche Scheiß! Tocotronic waren da angekommen, wo sie anfangs nie hinwollten. Eine Standard-Lichtschau aus rot, lila und grün, eine Halle voller mitgröhlender Fans. Manchmal klang das wie Element of Crime, oder in den schlichtesten Momenten, wie bei Westernhagen. Schlagzeilen-Pop. Slogan-Rock. Obwohl die T-Shirts inzwischen auch langweilig aussehen und das doppelte kosten. „Autogramme vis-a-vis“ Die Jungs in wissendem Schwarz, Auskenner-Bohemians. „Eine Welt, deren Umriß uns gefällt“. Na denn man los!



 

Später dann fing die Formation doch noch an, den Bus-Bahnhof zu rocken! Das lag erst mal gar nicht an Dirk von Lotzow, sondern an Schlagzeuger Arne Zank. Der schien direkt der Muppet-Show entsprungen, drosch wirklich einen harten Beat, sprang enthusiasmiert nach jedem Titel auf und machte Mut. Aber der unausgesprochene King war: The Brett! Keine Ahnung, wer der Typ war, sie hatten einfach einen vierten Mann dabei, aber der hatte Stadion-Qualitäten. Cool, diszipliniert und charmant, wußte der alles: griffige Soli, Sperrfeuer aus Rhythmus und die fiepsenden Keyboards. Der hat den Braten gerochen und mit den Instrumenten gesprochen. Stand knochenstarr und eloquent im Schlagernebel. Plötzlich Ehrlichkeit und Pathos – selbstbestimmte Freizeit.

 

Die Zielgruppe flippte längst aus, glückliche, lachende Menschen voller Jugend, Alkohol und Ungewissheit über die Zukunft. Immer auf der Suche nach Idealen, feierte die ihre Individualität und die Band. „Ich möchte Teil einer Jugend-Bewegung sein!“ Ein Schubsen und Tanzen, so könnte es gehen. „Das hat die Jugend sich selbst aufgebaut“. Textsicher wurde zurück gebrüllt, die Zopfplanzen schunkelten stumpf durch. Die alten Gassenhauer & Parolen wurden agressiv hingepunkt, raus gerotzt, ab-gehaßt. Die-„Let be there Rock!”-Keule! Schluß mit der Einsamkeitsmusik. Jetzt war alles gut und ehrlich.


Nach 70 Minuten war Ebbe bei den Hamburgern. Aber niemand mußte lange betteln, nun erst recht. Jetzt kamen die langsameren Tracks von der neuen Scheibe wie „Hi Freaks“ oder „Neues vom Trickser“, die doch für die Entwicklung der Band stehen. Erwachsen werden doch die meisten, hörbare Versuche weiterhin mit sich klar zu kommen. Zynisch oder hymnisch.
„This Boy is Tocotronic”. Tocotronic gelingt es immer noch wie keiner anderen Band, soziale Empfindungen und den Alltags-Blues in Worte zu fassen. Und wir reden hier von jungen Menschen, denn „Dringlichkeit besteht immer“. Sie singen scheinbar nonchalant, ich nenn es verzweifelt, über eine neue Einsamkeit und die Definition von Gefühlen durch Geld. „Alles muß im Überfluß vorhanden sein, dann sind wir nie allein“



 

Themenfelder, die Blumfeld ohne Not leider aufgeben hat, die Tom Liwa aus einer hoch individualisierten Erfahrung besingt. Denn „In diesen Räumen liegt’s sich bequemer als irgendwo anders zuvor.“ Tilman Rossmy hat wohl aufgegeben und Bernd Begemann irrt durchs Fernsehen. „Der sogenannte Realismus fällt nicht weiter ins Gewicht“, wissen Tocotronic. Oder ist das die neue, heimliche, deutsche Härte?: „Wir sind die Agenten, jetzt ist es soweit“, behaupten Tocotronic. Aber wenn aus Hamburg jemand singt: „Die Bruderschaft der dunklen Macht kann uns verstehen, so will die Welt zugrunde gehen“ und gleich nachlegt „Alles wird in Flammen stehen“, interessiert das auffallend niemanden. He, Musik-Paper-Posse, Moralisten und Diskurs-Rocker, kurz eingenickt oder zuviel Büffets? Hört noch jemand zu? „Sie wollen uns erzählen“, we call it Selbstgefälligkeit. Tocotronic sind auf der Bühne unzweifelhaft gewiefter und besser, als auf überproduzierten Platten. Hier rockte eine antrainierte Haltung, soviel Unbill können die Bleichgesichter noch nicht erfahren haben. Ein erlernte Pose, aber „vielleicht ist die Welt noch nicht soweit“.

 

Electric Galenza  1.11.2002