TARWATER – Demarkationslinien
(Konzert am 5.9.2002 im Ex-WMF, Berlin)
Ein fetter Sommer hing über Berlins Mitte. Schon September und wir trafen uns im Telegrafenamt. Später als Ex-WMF in der Ziegelstraße hausierend, bettelte man hier früher jahrelang um einen Telefon-Anschluß. Diesmal gingen wir direkt von hinten rein & ran. Tarwater hatten geladen zur Disko im Niemandsland. „Dwellers on the Threshold“ nennt sich ihr neues Standard-Werk. Unter einem Schleppdach von heroischem Ausmaß war gut chillen & grillen. Wenige Jahre früher wohnte hier noch jedes imaginäre Telefon des spirituellen Sozialismus der DDR. Nun waren die fort und wir waren da. Die üblichen Verdächtigen, ein Familienabend aus Freunden, Wohlgesonnen und Anhang. „Dogs and light tens“.
Diedrich Diederichsen machte soeben neue Getränke klar, wir besprachen die Aktualitäten einer Pop-Professur zwischen Stuttgart und Schöneberg, neuen Büchern und Berlins kompromittierter Mitte. „Imperator Victus“. Unterm nächtlichen Sommerdach das übliche Palaver zwischen Musikangeberei, Kunst-Attacken und Nierenärzten. „All the looser are groovy“. Wir retteten die Aufklärung und verwarfen Wagner. Und alle Langhaarigen hatten das System gestürzt! Penis-Fechterei. Ein warmes rotes Licht warf einen „Perfect Shadow“, der alte Mond leuchtete zwischen faulen Dachsparren und dem Glitzerhaupt der jüdischen Synagoge gegenüber. The Local Moon. Im stillgelegten WMF mit all seinen Gängen, Bars und Nischen war gut wandeln und verirren. Le Größe der Ruinen.
Wir waren gespannt wie analoge Flitzebogen! Viele Jahre früher probten Lippok und Jestram als Ornament & Verbrechen das Verbrechen am Ornament, da waren frisch-frivole Maschinenstürmer am Werk. Nun beherrschen sie den Maschinen-Park. Auf Platte klingt Ronald Lippok wie ein konspiratives Treffen zwischen Johnny Cash und Bukowski, er subsumiert seine dunklen, bilderschweren Text wie aus dem Exil in Tanger auf „Tesla“. Seine Stimme wärmt die Elektronik. Ein eiskalter digitaler Loop legt los, ehe Bernd Jestram seine herzerweichende Harmonie-Keule anschmeißt. Ein ironisches „Miracle of love“?
Jetzt machten sie einfach das Licht aus und dann begann es stürmisch zu ventilieren. Früher brauchte es dafür drei fellfressende Verrückte in Flanell-Hemden, die alles auf laut stellten. Hier nun drei elektrifizierte Atominos, plötzlich bolzte eine kleine, kaum sichtbare Trafo-Station los. Sie hatten uns am Arsch. Der entfesselte Videomann Lillevän Pobjoy schmiß dazu französische Filmavantgarde, Stummfilm-Sequenzen und irreführende Romantik-Verheißungen ins Getümmel. Alles gescratcht, gequirlt, geloopt. Faszinierendes Flak-Flimmern aus Zitaten, Verweisen und Kitsch! Es regnete Rosen und Piano-Tasten, Tränen und Hüte! Was auf Platte noch versteckt harmonisch anschleicht, wurde hier dekonstruiert, verworfen und überhitzt. Das hatte Schmackes! Popkultur und Zitat-Fuchteleien waren auf einmal vollkommen egal, es war laut und echt. Nicht das Medium, sondern Authentzität war am diesem Abend die Botschaft. Hier ging es nicht mehr um Ahnungen oder Auskennertum, sondern um Ernsthaftigkeit und Leidenschaften. Eine irre Bilderflut auf einem entfesseltem, unkontrollierbaren Beat, so fühlte sich das an. Weit mehr als „Metal flakes“. Zum Schluß holten sie vier taktvolle Percussionisten auf die abgedunkelte Bühne, die hitzig ihren natural born beat dazu klöppelten. Wir waren außer uns und endlich angekommen. So könnte es gehen: Die Aufruhr zur Liebe!
Ronald Galenza 10. September 2002