Nirvana: Smells like hell in Berlin
(Berlin, Loft – 10.November 1991)
Das erste Mal im Nirvana war ich in einem hitzigen Sommer. 1991 hieß das Jahr, Köln die Stadt. Es war Popkomm, im Kölner Tanzbrunnen am 24. August 1991 stiegen beim Rhein-Rock-Festival diverse verrückte Amis auf die Bühne: Sonic Youth, Dinosaur jr., Bob Mould und eine einigermaßen unbekannte Kapelle namens Nirvana. Auf den Billetts standen Nirvana ganz klein geschrieben als letzte Band. Cobain rannte im weißen Kittel umher und gab den Doktor Schiwago. Echt durchgeknallt. Am Set-Ende stand ihr damals aktuelles Instrumente-Zerhacken und Boxen-Stürmen. Es war irrsinnig laut, wir flohen mit einer Schaluppe über den nahen, nächtlichen Fluß ans andere Ufer.
Drei Monate später. Remember “The Loft”? Nollendorfplatz, former Westberlin. Nirvana in Berlin, am 10. November 1991. Es war ein Sonntag. Eine Band war avisiert die noch kaum jemand kannte. Man bezahlte seinerzeit praktische 20 D-Mark Eintritt. Ins Loft paßten offiziell vielleicht 500 Leute, an diesem Abend waren 800 da. Vor der Tür standen bestimmt noch 200 Menschen ohne Karte und Chance. Es war lange bevor Grunge zur Marke verkam. Im selben Sommer dieses Jahres kam Nirvana’s „Nevermind“ heraus, war aber noch den wenigsten bekannt. Es ging um laute, marodierende Gitarren. Um ein Lebensgefühl. Um eine Haltung. Noch kein Hype, kein Trend. Wir waren da, bevor alle anderen es bemerkten. Nirvana waren in der Stadt. Und das sollte beängstigend laut & intensiv werden.
Es war nicht zum Aushalten. Drei Vorgruppen arbeiteten sich an ihren Vorstellungen von hartem Rock ab, naja. Das dauerte erstmal. Und dann kamen drei komische, krude Typen auf die kleine Bühne und holzten einfach los. Von der Bühne wehten jetzt Intensität, Lärm, Aggressivität und üble Laune. Im Publikum die ersten Scharmützel. Ein stetiges Wogen, dann kollektives Pogen. Cobain rotzte die frühen, unschicken Tracks ihrer ersten, schwarzen „Bleach“-LP heraus: „Negative creep“, „About a girl“ und „Swap meet“. Das klang roh und unfertig. Da war kein Mitleid, keine Gnade. Nur Ernst und krachendes Leiden. Sie wollten es wissen, für sich selbst, die Masse war eigentlich egal. Nur das die längst zurück schrie. Kaum Licht, klares Weiß, trostloses Schwarz. Ohne jede Gnade. Und es wurde immer noch lauter. Denn jetzt legten die Holzfäller-Hemden aus Seattle erst richtig los. „Smells like teen spirit“, Come as you are“ oder „Brain you“ schepperten roh, rauh und brachial hernierder. Das waren noch gar keine Hits, sondern Fanale. Splitternder Sound vom Schmerzensmann.
Die ersten rasteten aus und sprangen sich den Haß aus dem Wanst. Ganz hinten tanzte die alte Westberliner Elite, die Medien-Meute und die Halbwelt-Wichtigen. Schweiß unter den Armen. Hektik im Gesicht. Man konnte die Hitze atmen, das Wasser floß von den Wänden. Lebenslust tropfte von der Decke. Elektrizität knisterte. Hier wollte Rock’n’Roll wieder was vom Leben, es ging um alles. Grohl, Novoselic und Kurt prügelten sich ihren Frust aus den Leibern. Der Mob ging zu enthemmten Massen-Pogo über, jeder war sich selbst der Nächste. Jetzt wurde offensiv zurück geschunkelt. Seattle brüllte und barmte, man konnte die Drogen hören. Es war ein Höllengewitter. Ohne Furcht oder Erbarmen. Man wurde unwiderstehlich in diese tobende Menge gesogen, Luft war keine mehr da, nur noch ein Leuchten in allen Augen. Es war längst alles egal. Nirvana wummerten erbarmungslos als selbst entfesseltes Inferno.
Es war nur ein kleiner Ort in einer großen Stadt in dieser einen Nacht. Woanders waren andere Dinge wichtig, vielleicht. Wer aber an diesem authentischen Abend in diesem Lärm-Gewitter dabei war, kann nicht vergessen. Als Grunge explodierte. Wir erinnern uns wund, als Kurt Cobain ging.
Ronald Galenza 5.4.2004 zum 10. Todestag von Kurt Cobain