LOW / Tom Liwa – Als würd’s kein morgen mehr geben

 

(Berlin, 29.11.2002, Kulturbrauerei)

 

 

Tom Liwa wieder in Berlin, schön. Ich besuchte ihn im abgedunkelten Backstage-Bereich. Es gab einiges zu besprechen. Zum Beispiel: „Kylie und Jochen“. Aber Distelmeyer kennt das Lied natürlich und kann damit leben. Oder: das kleine Hexenhaus am Rande von Duisburg. Oder: wer bestimmt eigentlich die Musik, die vor den Bands läuft? Eine gemeinsame, angenehme Zigarette vor der Tür. Drin wars schon verboten. Ich wünschte ihm eine schöne Zeit. Dann saß er da ganz allein auf breiter Bühne und erzählte seine schön-traurigen Geschichten. Die aus dem Leben, wo’s auch mal weh tut. Es war völlig unmöglich zu entkommen. Wir waren die Protagonisten des Märchens, das größer war als wir. Liwa hat sein Gitarrenspiel mittlerweile dermaßen perfektioniert, das es fast wie klassisches Lautenspiel anmutet. Sehr dicht, sehr prägnant. Lieder von einer Jugend auf dem Rücksitz. Poetischer Realismus. Einwandfrei!

 

Im riesigen Hof der Kulturbrauerei war ein blinkendes Weihnachtsdorf aus kleinen Holzhütten aufgebaut. Da verscherbelte man falschen Glühwein, Schmuck, bunten Nippes & Tand. Aus dem Kleinstadt-Idyll quengelten Weihnachtslieder, Arien der geschäumten Glücksseeligkeit. Immer wenn die Tür aufging, strömten die herein. Es fehlte nur der Kleinstadt-Mond aus Liwa’s Liedern. Aber durch seine Musik konnten wir die Sterne sehen unterm nackten Beton. Er sang neue und ältere Songs wie von allen guten Geistern verlassen und gab uns die Kraft zu verstehen. Hier ging es um Wärme, Intensität und Ehrlichkeit. Ein Konzert wie ein guter Brief. Danke. Wir sehen uns.

 

Anschließend LOW: Der Tag, der als Nacht begann. „America is bad“, stellten Low gleich klar. The Audience war listening. Quiet. Und dann gefror die Zeit. Eine Gitarre. Ein Baß. Ein Standschlagzeug. Mehr bedurfte es nicht für das amazing grace. Die Zeit blieb stehen, alles hielt inne. Verlorene Seelen. Ewige Stille kam hernieder, Töne schwollen. Ein Hauchen. Eine Ahnung von allem. Von der Bühne wehte der Schmerz aus Jahrhunderten, das Leiden an sich selbst und den Umständen. Ich sah Low und ich sah in den Abgrund. Das soll ich sein? Trauer und Aufgabe aus sich selbst heraus. Das mußte dich erst mal trauen. Das Blei aller Erfahrungen fiel von den Wänden. Ein Haus aus Pein. Aus Stolz geborene Harmonien. Ein Mann, eine Frau und noch ein Mann. Verzweiflung kann doch schön klingen. Das burnt nach innen. Wir haben die Sehnsucht, aber nicht das Geld, die uns leisten zu können. Trotziges Selbstbewußtsein mörtelte sich in den rauhen Beton. Ein Flüstern. Ein Barmen. Angst essen Seele auf und Seele geht gestärkt daraus hervor. Die vielleicht langsamste Band der Welt.

 

Vorm Haus die Glühweinlüge und elektrische Scheinheiligkeit. Eine Eisbahn für die jung Verliebten. Draußen jazzte die Jauche des Herbstes ihr eigenes Lied. „Weight of water”. Die dünnen Fäden des Novembers. Eine Ahnung von allem. Scheitern und wiederkommen inklusive. Innen: ein Raum aus Stille. Melancholische Mädchen, einige Fusselbärte und illustre Klischees von Mannsbildern. All die Gestalten aus verlorenen Filmen. Stumpfgesichtige Basecapes gaben mit ihrer unverfrorenen Dummheit an. Ein Sägen. Ein Bohren gegen alles Unbill. Ein grandioses Scheitern in Tönen. Konzentriertes Harmonisieren. Man kann Stille auch bearbeiten, behauen. „Voices“. Die Pauke kesselte, Besen, Besen, war’s gewesen. Ein Rascheln, ein Regen. Immerwährend. Ein Klang aus Reinheit. Darin konnte man sich schon selbst verlieren. „Near down“.  Oder: Teenage-Angst! Aus Stolz geboren. Kein Weltschmerz das. Ein Klang aus Echtheit. Man kann die Gitarre auch streicheln und dabei siegesgewiß untergehen. Und dann wurde im Schmerz gebadet; es ging um Paranoia und Ich-Verlust. Plötzlich ging es um das ganze Seelenheil. Jede Zigarette ein Abschied, jedes Bier ein Neuanfang. Ein Malmen. Aber es war eben nicht der Ausverkauf haltloser Seelen, sondern ein konzentriertes Musizieren aus einer gefestigten Haltung heraus. Gelassene Erhabenheit – und das Wissen darum. Die sägten uns den Grind aus den Herzen. Hier war die Verweigerung am Weltenlauf zu haus. Ein Klang aus Reinheit. Ein Loslassen können. Low gaben still Pink Floyds: “Every day is a right day”. Danach könnte man leben.

 

Electric Galenza    1.12. 2002