Rammstein, Phillip Boa & Virginia Jetzt! - Reise, Reise
30. September 2004 - Palast der Republik, Berlin
Popkomm in Berlin. Die erste. Ne Menge Leute unterwegs. Ich bekam unterwegs davon Wind, das im alten Palast der Republik heute was gehen sollte. Motor Music hatte zum 10. Geburtstag geladen, nur hatte ich leider keine Ahnung davon. Die Karten zur Party gab es nicht zu kaufen, sie wurden verschenkt oder verlost. Aber hey, das ist unsere Stadt und irgendwen kennt man immer. Also rein durch die VIP-Schleuse und seit 16 Jahren wieder im Palazzo Prozzo, dem häßlichen Kasten aus einer anderen Zeit. Interessant und anders. Ganz früher waren wir hier mal zum Bowling oder in der Pinte auf der Spreeseite, um überteuerte Getränke einzunehmen. Ab Ende der Achtziger traten dann sogar unsere Bands hier auf: die anderen, AG Geige, Tina Has Never Had A Teddybear und noch ein Schwung andere. Das nannte sich dann DDR-elegant "Woche der Jugend" im Palast. Welche Jugend in Erichs Lampenladen marodierte, blieb lange unklar. Seinerzeit hatten wir immer eine heimliche Pulle rumänischen Wein dabei oder schnorrten die Drinks von irgendwelchen Westlern. Nun also wieder hier, schon komisch in dieser bis aufs Skelett entkernten Polit-Ruine rumzuwandern. Alles ist offen und weit. Nackter Stahl & Beton. Keinerlei Romantik, eher unsexy Kühle. Aber das Licht von überall wärmte ein bißchen. Oben gab sich Motor Music die Ehre, es war gut voll.
Rammstein legten los. Aber was war das? Es erschienen sechs gestrenge Damen! Herb wie schön. Alle unter Mädchen-Perücken, in sittsamen Frauen-Uniformen und kecken Stiefeln. Till, nun ja, hat etwas ausgelegt und sah in seiner oliv-grünen Kluft aus wie eine importierte, sehr strenge Komissarin aus den endlosen, russischen Weiten. Eine Frau, die einem alles andrehen könnte. Kruspe hatte lange, blonde Zöpfe und Damenstrumpfhosen angelegt. Flake und der Rest hatte dagegen graue Uniform-Kittel samt Röcken an, samt seltsamen Mützen. Sie sahen ein bißchen so aus wie kranke Krankenschwestern. Die Jungs waren sogar deftig geschminkt, das hatte herben bis spröden Charme. Liebreiz sieht anders aus, das waren wohl leibhaftige Gender-Studies. Am geilsten sah mal wieder Flake aus, nur sein Busen war etwas klein. Die Herren spielten vier Songs unplugged, "Hier kommt die Sonne" geriet zur Mitklatsch-Ballade. Pauker Schneider zauberte an der Akkustischen, bei Paul kam wieder die alte Russerei durch, er bearbeitete gekonnt seine bauchige Gitarre und verfiel immer wieder in die Ausfallschritte des Alexandrow-Ensembles. Keck! Das war lustig und eigen. Wie eine Option auf die ungewisse Zukunft.
Derweil begegnete man diversen alten Verkannten und Vaganten. Hier herrschte eine klare Klassengesellschaft. Die Farbe der Armbändchen war entscheidend: blau = normaler Gast ohne Optionen. Gold = VIP & Freigetränke bis zum Horizont. Ich traf die üblichen Verdächtigen, aber Knorkator haben ganz freiwillig immer wieder Drinks vom Sehnsuchts-Tresen backstage herbei geschafft. Jute Jungs, Danke!
Phillip Boa machte weiter. Als Geschenk und Danke an Motor Music. Zwar längst gedropt, aber immer noch dabei. Er habt erst gar nicht lange rum geeiert, sondern gleich die alten Smash-Hits unters Volk verteilt: "Kill your ideals" und "Diana". Zwischendurch grantelte Boa dann ein bißchen herum: "Hey, wohl noch nie ne coole Band gesehen?" Das war ebenso lustig wie verbraucht. Ex-Frau Pia war auch dabei, seltsam interessant gealtert und geläutert. Aber bei "Love Bomb" ging die Meute schon los, es wurde getanzt. Das Ehepaar Renner wippte gediegen mit.
Vorm Ausschank süchtige Schlangen. Irgendein DJ mühte sich willig ab, die Pausen erträglich zu halten. Hinter Bühne war alles umsonst, aber kernige Muskel-Jungs hielten strenge Wacht. Hier mußten nun wieder die alten Ost-Connections ran. Ich traf Scholle, Ex-Trommler von Die Art und auch sonst umtriebig, der half mir weiter. Letztlich kam ich mit Flake's Artist-Paß rein ins Paradies der Bessergestellten. Hier hausierten Sodom & Gomora. Soviele wichtige Leute. Die Lackaffen aus den Music-Companies, deren Groupies, Bedenkenträger & Wichtigtuer, leicht-bekleidetes Junggemüse, beballerte HipHoper und die Komiker aus allen Gewerken. Das war Berlin wie es singt und säuft. Massig weiße Stiefel, kurze Röcke, schöne Frauen. Keine Ahnung, was die tagsüber so machen. Gigelnde Mädchentrauben um die lokalen Stars und scheinbar Interessanten. Die Funktionäre der Geselligkeit waren wie immer umschwärmt. Und an der umtosten Bar waren diese Ladies immer ganz weit vorn. Vielleicht lag es am Ausschnitt oder den unausgesprochenen Möglichkeiten. Kurz mit dem Motor Tim Renner gequatscht, aber der war bussy und scheinbar glücklich, sein Heimspiel. Hier schwadronierte eine unbegründete, fröhliche Heiterkeit. Denn hier war wirklich jeder wichtig! So many Angeberfressen im Bohemy Berlin. Schon lustig, all die Verkleideten. Ich ruf dich an...
Vorne legten Virginia Jetzt! los. Das interessierte eigentlich niemanden mehr wirklich. Aber, wie sie scheinbar stolz verkündeten, sind sie immerhin die definitiv letzte, von Motor Music gesignte Band. Nun gut. Trotzdem vier einfache Jungs aus Brandenburg in schlichten T-Shirts. Die gaben sich Mühe und sägten stolz ihren Gitarren-Rock in die unsinkbare Palast-Ruine. Das war naiv wie angemessen. Gesoffen und gelabert wurde trotzdem unverdrossen weiter.
Draußen wankten immer noch Einlaß-begehrende Bohemiens aus der Nacht heran, Geschmacksfronten in der neuen Mitte. Vor den Klo-Containern maßlose Schlangen, die Geschlechter vermischten sich frivol. War das der Motor der Musik im gnädigen Halbschatten des Alkohols? Oder ein Asbest-befreiter Mythos auf dem Abstellgleis, der lustigerweise in Berlins Mitte wieder groovy wirkt? Eine Vergangenheit als Chance? Das Heilige schließt das Bedürfnis nach dem Sakrileg ein. Vielleicht.
R. Galenza, September 2004
(Fotos: Kerrang)