Abschied vom Watt
Demokratie ist nicht möglich auf der Basis von Privateigentum.
Bert Papenfuß
Anfang September des Jahres 2025 ging ein bewegendes und prägendes Kapitel Kultur-Geschichte des Prenzlauer Bergs zu Ende. Einer der letzten verbliebenen kulturellen Treffpunkte, die Kneipe Watt in der Metzer Straße 9 mußte schließen. Die neuen Eigentümer aus den gepäppelten Ländereien des US-Marshall Plans jenseits der Elbe forderten eine Mieterhöhung um das Dreifache und waren stur nicht zu Verhandlungen oder Kompromissen bereit. Profit Maximierung ist ihnen wichtiger. Wie man hört, soll in den Laden bald ein Delikatessengeschäft in die Kneipenräume ziehen. Feinkost für Besserverdiener statt Gespräche, Kunst und Freundschaft. Dabei reicht die Geschichte des Gasthauses über 100 Jahre zurück. An der Kreuzung Straßburger Straße/Metzer Straße gab es mal an jeder der vier Ecken eine Kneipe.
August Lehmann (r.) betrieb die Kneipe an der Metzer Straße 9 von 1922 bis 1937
Foto: Petra Niesler
Mitte der 80er-Jahre war es eher ein Ort für harte Jungs wie Heizer, Maurer und Totengräber mit Nachtbar-Status, weil die Kneipe auch nach Mitternacht noch offen hatte. Die Kaschemme beherbergte bis 2010 die Bar Diller, benannt nach dem Maler und Grafiker Michael Diller, einer prägenden Figur für die Kunstszene des Prenzlauer Bergs, der legendäre Künstler-Partys veranstaltete. Ab 2010 eröffnete der Schriftsteller Bert Papenfuß mit der Rumbalotte continua die Vorgängerinstitution des WATT. Papenfuß war vom Kaffee Burger auf der Torstraße hoch gezogen und betrieb eine kundige Literatur-Kneipe und Künstlertreff. Die übernahm Sindy Kliche 2015, genauso wie den Anspruch, Kultur für jedermann und jeden Geldbeutel anzubieten.
DIE BEVÖLKERUNG DANKT IHREN EIGENTÜMERN
Der allerletzte Abend im WATT: 06.09.2025 / 20:00
Drei langjährige Verbündete richten einen Abend in den für die feindliche Übernahme festlich verpackten und geschmückten Räumen aus. Wir trinken aus, was noch da ist.
GRENZPUNKT NULL: Rex Joswig (Stimme und Sounds) - Game Over oder Im Rausch der Möglichkeiten
Henryk Gericke (DJ) - (psychedelic vinyl singles) + Maître Dotti (Küche)
Ein lauer September-Abend, bunte Lichter vor der Tür. Viele gute, bekannte Gesichter. Denn das ist ein Abend für immer. Nicht mal verqualmt die Hütte. Draußen viel Hallo, Umarmungen, feste Händedrücke. So viele unterschiedliche Biographien, soviel stolzes Leben. Jemand merkte an, erst das „Diller“, dann die „Rumbalotte“ von Bert und jetzt Sindys „Watt“, das war meine gesamte Jugend. Das Bier war schon halb 10 alle, die Prozente stiegen. Aber gegenüber hat ein neuer Späti eröffnet, da gab es noch Bier und Trost.
Rex Joswig hat ein grandioses Set gespielt. Der Dub-King ließ die Sounds fliegen, Peggman an der Halluzinations-Gitarre sendete Echolote. Das Duo zauberte Wärme und Sehnsüchte ins Kulturgut. Als ob man & frau in einem Mohnfeld läge. Es war zum Erbarmen schön (traurig) und sehr bewegend. Schwer melancholisch. Tränen kullerten. Stürmischer Applaus (nicht enden wollend). Rex letzte Ansage bündelte alles: Danke an Sindy & Bert! Im Anschluß wurde der Zeitraffer-Film der Kunst-Aktion vom Vortag gezeigt, als die Aktivisten in weißen Maler-Anzügen und unfaßbarer Flinkheit 11.264 bunte Post It-Zettel von außen an alle Fenster klebten (siehe Facebook vom Watt). Denn die Petion zum Erhalt des Watt hatten 11.264 Menschen unterschrieben!
Foto: Matthias Richter
Danach beschenkte DJ Henryk Gericke die Gemeinde mit deftigen und wütenden Singles. Wut & Wehmut. Schall & Rausch. In der Stunde des Zweifels. War schon schwer... Ich konnte das nicht aushalten und verschwand in die elende Nacht. Da ist nun wieder was Gutes und Wichtiges im Prenzlauer Berg für IMMER weg. Das WATT ist zu und Geschichte. Lebendige, starke, autarke, widerständige.
Foto: Bewußt unscharf um das Verblassen der Geschichte zu zeigen
Wir, ich, verlieren ungern gegen die ignoranten Geldmenschen aus dem Westen. Die sich nicht mal dafür interessieren, wo sie hinziehen und ganze Häuser aufkaufen. Denn die Motivation dieser neuen Kolonialherren ist eine der biblischen Todsünden: Gier! Warum werden Leute so? Hatten die keine wilde Jugend oder Ideale? Nur den armseligen Wunsch, reich zu werden? Das war nicht Gottes Plan. Nun haben es die zugezogenen Profiteure geschafft: Der Prenzlauer Berg ist tot und bereinigt. Wie kann man das nur aushalten?
Tiefen DANK an ALLE und ALLE, die so viel Energie, Leidenschaft, Ideen, Zeit & Engagement für die Rettung des WATT aufgebracht haben. Danke an Sindy, die das alles ertragen und ausgehalten hat! Unglaublich und schön! Da blühte er nochmal, der alte Prenzlauer Berg.
Der Autor R. Galenza schrieb auf der Petions-Seite zum Erhalt des WATT:
“Die Kneipe Watt ist so viel mehr als ein gemütliches Gasthaus. Bier bekommt man überall, aber Freundschaft und Geborgenheit findet man in dieser erkaltenden Stadt nur noch selten. Im Watt gibt es schöne Live-Konzerte, Lyrik- und Buchlesungen, Diskussions- oder Trauer-Abende und stets Horizonterweiterung. Man kann völlig unangestrengt interessante neue Menschen kennenlernen.
Das Besondere an diesem Ort ist seine Vielfalt. Hier trifft sich nicht nur eine bestimmte, festgelegte Klientel oder Blase. Nein, diese Kneipe ist offen für alle. Hier treffen sich Nachbarn wie Touristen, Künstler und Obdachlose, Bürgergeldempfänger und Anzugsträger, Medienmacher oder Kollegen von der Akademie der Künste, Musiker und Arbeiter. Das Watt ist ein zuverlässiger, offener Ort für alle Bevölkerungsschichten.
Unverständlich und ärgerlich bleibt die Tatsache, dass immer wieder Einzelne ihre egoistischen Eigeninteressen über die so viele anderer Menschen stellen. Dieser Laden ist Ausschank und Sozialstation für viele, ein abendlicher Treffpunkt für Verschiedenheit. Das Watt ist einfach ein Stück Heimat für viele unterschiedliche Menschen geworden.”
Plakat von Jim Avignon
GEHT DAS WATT, VERLIERT BERLIN
Die Offenen Briefe an Berlins Bürgermeister Kai Wegner und Franziska Giffey, Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, zur Unterstützung des WATT haben namhafte Künstler und Kreative unterschrieben.
Alexander Pehlemann (Journalist und Kurator)
Andrea Pichl (Künstlerin)
Ann Cotten (Schriftstellerin und Übersetzerin)
Annekatrin Hendel (Regisseurin und Drehbuchautorin)
Annett Gröschner (Schriftstellerin)
Annette Simon (Psychotherapeutin und Autorin)
Benno Fürmann (Schauspieler)
Bernd Jestram (Musiker)
Christian „Flake“ Lorenz (Musiker und Autor)
Christina Große (Schauspielerin)
Christine Heise (Musikkritikerin)
Christoph Kreutzmüller (Historiker und Kurator)
Corinna Harfouch (Schauspielerin )
Dimitri Hegemann (Kulturmanager)
Florian Werner (Schriftsteller)
Frank Willmann (Autor)
Frank Witzel (Schriftsteller)
Franziska Hauser (Autorin und Fotografin)
Gerd Kroske (Regisseur und Filmproduzent)
Guillaume Paoli (Philosoph)
Harald Hauswald (Fotograf)
Heinz Havemeister (Musiker und Autor)
Henryk Gericke (Schriftsteller und Herausgeber)
Hugo Velarde (Philosoph und Musiker)
Jan Faktor (Schriftsteller)
Jim Avignon (Künstler und Musiker)
Jochen Distelmeyer (Musiker und Schriftsteller)
Jörg Sundermeier (Verleger und Autor)
Jule Böwe (Theater- und Filmschauspielerin)
Jürgen Kuttner (Moderator und Theaterregisseur)
Knut Elstermann (Filmkritiker und Autor)
Kristin Schulz (Autorin und Literaturwissenschaftlerin)
Leander Haußmann (Film- und Theaterregisseur)
Lutz Seiler (Schriftsteller)
Marion Brasch (Hörfunkjournalistin und Schriftstellerin)
Masha Qrella (Musikerin)
Mathias „Matze“ Hielscher (Medienunternehmer und Podcaster)
Matthias Bauer (Jazz- und Improvisationsmusiker)
Milan Peschel (Schauspieler und Regisseur)
Peter Wawerzinek (Schriftsteller)
Rex Joswig (Musiker)
Rike Eckermann (Schauspielerin und Regisseurin)
Robert Mießner (Autor und Journalist)
Ronald Galenza (Autor und Herausgeber)
Steffen Mau (Soziologe und Autor)
Tatyana Nekrasov (Schauspielerin)
Torsten Schulz (Schriftsteller und Drehbuchautor)
Wladimir Kaminer (Schriftsteller und Kolumnist)
Wolf Glöde (Jazzveranstalter und Stadtplaner)
Es gibt keine Freiheit / in der Diktatur der Bourgeoisie, Demokratie genannt
Bert Papenfuß