Sonic Youth - Eine Schallwellen-Jugend

sonic-logo.jpgEine Band unserer Tage zählt ihre Lieblingsgruppen auf: die Butthole Surfers, Ut, Swans, Black Flag, Prince, Bangles, The Fall, Einstürzende Neubauten, Beatles, Lydia Lunch, Madonna, Dinosaur jr., Lou Reed und Iggy Pop. Diese Band heißt Sonic Youth. Sonic Youth sind heute Lee Ranaldo, der Gitarrist, Thruston Moore, Gitarrist und Sänger, Kim Gordon, die Bassistin und der Trommler Steve Shelley.
Sonic Youth kommen aus New York, USA. Sie sind aus der No Wave-Bewegung hervor gegangen. No Wave war eine Bewegung Ende der siebziger Jahre in der New Yorker Avantgarde-Szene, die eine Verbindung von Punk Rock und Free Jazz durchmachte. Sie bestand hauptsächlich aus Musikern, wie zum Beispiel David van Tiegham oder Gordon Giorno, aber auch Filmemachern, Videokünstlern und Literaten. Sie entwickelten ihr kulturelles Konzept als Gegensatz zur britischen New Wave, die schon bald in der raschen Kommerzialisierung durch die Musikindustrie zu versanden begann. Aber auch von den ersten Punk- und New Wave-Bands der USA wie den Ramones, Television, Talking Heads, der Patti Smith Group oder Richard Hell, hob sich No Wave deutlich ab. Die führenden No Wave-Bands dieser Zeit waren DANN und Teenage Jesus and The Jerks. No Wave war genre-übergreifend. Es bestanden kreative Querverbindungen zu Malern wie Julian Schnabel oder Jazzern wie David Moss. Auch Glenn Branca, der als der eigentliche Ziehvater von Sonic Youth gilt, ist gleichzeitig Maler und Musiker. Sie entwickelten eine "Art and Noise"-Konzept, das aus Geräuschkollagen und oft brachialem Lärm, dem "Wall of Noise", bestand. Später lösten sich Sonic Youth aber von ihren ersten Ursprüngen, dem Umfeld Glenn Brancas und den Contorsions und Statics.
Als ihre Vorbilder galten die Stooges oder Velvet Underground. Sonic Youth entwickelte systematisch den so eigenen, spezifischen Sound aus einem dichten Gewand aus nervös-hektischem Gitarren-Getöse, etwas Rock und etwas Psychedelic. Nicht als Band, sondern als freies Projekt, in dem jedes Mitglied seinen eigenständigen Part einnehmen kann. Vor allem beim Songwriting und Gesang. Sie verzichteten dabei auf gestimmte Gitarren und experimentierten lieber mit schrägen Feedbacks und Dissonanzen herum. Ihre "Songs" entstanden bei Sessions aus der Improvisation heraus, die Lyrics kamen erst später hinzu. Oft erscheint ihre Musik als konzentrierter Krach, den aber gezielt eingesetzt und modeliert. Lee Ranaldo erklärt: "Sonic Youth macht keinen Lärm. Es ist eine Rockband! Aggression und Reduktion. Wir wissen genau, was wir spielen." Thurston Moore ergänzt: Mit unserem auf die Gitarre-einhämmern erzeugen wir eine Körperlichkeit, die mit dieser ganzen Vorstellung von Illusion und Romantik aufräumt."

Ihre ersten Platten hießen "Sonic Youth", erschienen 1982, "Kill your idols". Sie kommen intensiv und brachial daher. Die manisch sägenden Gitarren setzen minimale Kontraste, ihre Musik paßt in keinerlei Schublade. "Sonic Youth sind nicht intellektuell. Wir planen nichts. Wir beziehen uns auf Rockmusik und die Geschichte der Rockmusik. Wir interessieren uns für die Informationen zwischen den Informationen", beschreibt Kim Gordon und erklärt weiter: "Wir sind an der Veränderung des Rockband-Images interessiert, dieser festgelegten Vorstellung von Gitarren."
Nun machen Sonic Youth eben nicht einfach nur Krach. Immer schimmert ihr Un-Konzept aus strukturiertem Lärm und Wille zur Kunst durch. Lee Ranaldo berichtet: "Wir hatten alle irgendwann einmal Kunst gemacht, Skulpturen und anderes. Kim hat lange Kunstkritiken geschrieben. Ihnen geht es nicht um einfach Ideallösungen, ihnen liegt eher daran, verschiedene Menschen in einem Raum zusammen zu bekommen, um gemeinsame Erfahrungen machen zu können. Bei einem Konzert in London wurde Iggy Pop von der elementaren Wucht von Sonic Youth derart gepackt, daß er spontan auf die Bühne sprang und sie gemeinsam das alte Stooges-Stück "I wanna be your dog" spielten.
Ihre Texte haben einen leichten Hang ins Nebulöse; dunkle, bedrängende Momente wechseln mit Comic-Sprachfetzen oder Traum-Motiven. Sie beziehen sie aus vielem, aus der Musik anderer, dem Fernsehen, aus Experimental-Lyrik genauso wie aus Tagesnachrichten. Themen wie Gewalt, Tod, Sex und Leid dominieren. So nahmen sie zusammen mit der New Yorker Avantgarde-Künstlerin Lydia Lunch das Stück "Death Valley 69" auf, das von den Greultaten des Charles Manson und seiner "family" im kalifornischen Tal des Todes 1969 berichtet.

sonic-evol.jpgSteve Shelley übernahm 1985 die Trommeln. Zu dieser Zeit erschien "Bad Moon Rising", für das die Band erstmals die Struktur herkömmlicher Popsongs aufgriffen und damit von der Kritik hochgelobt wurden. 1986 erschienen gleich zwei Alben, ihre LP "Evol" - einfach Love rückwärts geschrieben - die "Sister"-LP. Mit diesen beiden Platten wenden sich Sonic Youth weiter den Strukturen der Rockmusik zu. Die einzelnen Stücke tragen jetzt mehr Songcharakter, erscheinen geordneter und hörbarer. Während sich die Tracks früher meist in furiosen Krachorgien auflösten und zerfaserten, werden sie nun wieder aufgenommen und zur Ausgangsidee zurück verfolgt.
Damit wurde Sonic Youth zu dem Vorbild für viele ehemalige Hardcore-Bands in den USA, die sich weg vom harten, gleichförmigen Stil ihrer Anfänge geöffnet haben, hin zu ideenreichen Songstrukturen und eingängigen Melodien, wie etwa Hüsker Dü oder die Replacements. Peter Holsapple, ehemals bei den dB's, betont: Ich halte Sonic Youth heute für so bedeutend und stilbildend für junge Bands, wie es seinerzeit Deep Purple waren."
Zwischendurch inszenierten sie das Projekt "Ciccone Youth", das während der Aufnahmen zu "Evol" entstand. Zu Sonic Youth stieß Mike Watt, der Baßist der Minutemen, und gemeinsam spielten sie die EP "Into the groove", ein Hot von Madonna, ein. Diese Idee stammte von Thruston Moore, einem der größten Madonna-Fans, der wirklich alle ihrer Platten hat. Er begründet das so: "Wir haben die Arme um Madonna gelegt. Alles nur Spaß. Mir gefällt einfach ihre Musik, sie singt phantastische Pop-Songs".

Nach diesem Zwischenspiel ging Lee Ranaldo, der Gitarrist, noch einen Schritt weiter. Er veröffentlichte seine Solo-LP "From here to infinity", die nur sehr kurze, instrumentale Stücke enthält. Er erklärt: "Wenn man in einer Gruppe spielt, muß man Konzessionen machen, um überhaupt ein Zusammenspiel zu gewährleisten. Aber ich wollte auch mal etwas eigenes machen und mein eigenes, ganz persönliches Verhältnis zur Gitarre erkunden. Bei Sonic Youth waren wir ja schon an die soundtechnischen Grenzen gegangen. Aber ich wollte noch einen Schritt weitergehen."
Sonic Youth beteiligen sich, neben den eigenen Platten, auch an verschiedenen anderen Projekten. So schrieben sie den Soundtrack für den Öko-Film "Made in USA", helfen aktiv anderen, jüngeren Bands wie Dinosaur jr. Und leisteten für das Beatles-Coveralbum "Sgt. Pepper knew my father" mit "Without you within you" einen herausragenden Beitrag. Vor kurzem erschien nun ihre LP "Master-Dik", die hauptsächlich Live-Aufnahmen und bisher unveröffentlichtes Studiomaterial enthält. So auch eine Coverversion des alten Ramones-Songs "Beat up the brat".

sonic-band.jpgSonic Youth sind heute ein maßgeblicher Impulsgeber der Underground-Szene New Yorks, die von Bands wie den Swans, Ut, Live Skull und Dinosaur jr. Mitbestimmt wird. New York ist eine sehr teure und harte, ja kriminelle Stadt. Auch hat das East Village die höchste Aids-Rate der Stadt. Sie leben und arbeiten in dieser Metropole, in dem es ein buntes, vielfältiges Nebeneinander der verschiedensten Stile gibt. Alles pulsiert und bewegt sich: Trash Metall, New York Ska, Funk oder Psychedelia. Zentrale Treffs für alle Stile sind das immer noch vitale "CBGB" und das "Pyramid". Oder die vielen kleinen Clubs und Bars. Dort treffen sich dann all die komischen Typen aus der Nachbarschaft, die schrillen Frauen, die Stammgäste, die Drogenfreaks, die Risikogruppen und Transvestiten. Tama Jamovitz, die junge New Yorker Bestseller-Autorin, schreibt über ihre Erfahrungen in der Millionenstadt: "Ich überlegte, daß ich mir etwas zum Mittagessen holen könnte, und ging wieder auf die Straße runter. Agnes, die Hellseherin, saß auf der Treppe und hielt mich an. Sie zeigte auf jemanden und meinte, das sei ihr Mann. Er stand am Bordstein, bei sich hatte er einen müde drein blickenden Hund. ‚Wir sind seit 30 Jahren verheiratet', sagte Agnes. ‚Wir passen gut zueinander: Er haßt Mensche und ich liebe sie und rede mit jedem. Er sieht schlecht, hat aber gute Beine. Meine Beine sind schlecht, aber ich kann prima sehen. Und außerdem leben wir in getrennten Wohnungen'."

R. Galenza Jugendradio DT 64 - "TREND - Forum populärer Musik", 6.12.1987