EMF - Mexico gewinnt Stage Diving

Auch Pop-Stars frieren. Electric Galenza begegnete EMF fröstelnd, in dicke Decken eingehüllt, im Berliner November. Schlotternd gestanden sie, daß Tom Jones ein inniger Fan von "Unbelievabele ist.

Früher, wenn wir als Schulkinder mit dem Bus ins Ferienlager am Kyffhäuser fuhren, mußte der Bus immer wieder stoppen. Einige konnten partout nicht ihr Essen bei sich behalten und mußten kotzen. Das konnten wir anderen nicht verstehen und meckerten laut. Inzwischen kann ich ihnen allerdings nachfühlen. Allerdings ist der Tourbus von EMF um einiges größer und höher. Es ist, als ob man in eine klamme, dunkle Höhle gerät. An jeder scharfen Kante rammt man sich das Haupt, die enge Wendeltreppe bricht einem fast das Gebein.
EMF-Gitarrist Ian und Trommler Mark waren allerdings sehr nett und aufgeschlossen. Sie machen ja auch freundliche Musik. Die ist so lebensbejahend, daß hunderte junge Mädchen in Euphorie stürzen und ihre kuscheligen Lieblingsstofftiere auf die Bühne pfeffern. Das war, als Rave noch eine legale Tanz-Droge war und sich deutsche Musikjournalisten gerade daran machten, dieses sehr britische Phänomen in ihren Postillen kaputt zu schreiben. Ian erklärt das heute so: "Ich glaube, ihr habt hier in Deutschland einen anderen Begriff von Rave. Für uns sind Raves einfach Parties, wo eine Menge passiert. Alle in Deutschland sagten, EMF ist eine Rave-Band, aber wir haben immer geantwortet, daß wir überhaupt keine Rave-Band sind, sondern das wir vielmehr Rockeinflüsse haben. Rave bedeutet für uns lediglich, abend in die Clubs zu gehen um zu tanzen und das taten auch einmal sehr viele Leute. Für uns ist Rave einfach ein Platz, wo Techno läuft."

emf-dip.jpg.gifIch hatte damals bunte Klamotten an, allerdings nicht mehr die selbstgefärbten Maler- und gebatikten Mauer-Sachen von einigen Jahren zuvor. Ich legte auf der Insel der Jugend in Berlin Rave auf und plötzlich kam die taz und betrunkene, englische Touristen. Wir hatten eine Klasse-Zeit und alle, alle sangen hemmungslos "Unbelievable" mit. Mit diesem Song schafften EMF nicht nur eine der bleibenden Rave-Hymnen, sondern auch einen Number One-Hit in den Staaten. Von diesem Riesenerfolg wurden EMF ziemlich kalt erwischt. "Das war ein sehr prekärer Moment", schildert Ian, "ich war sehr erschrocken darüber, wie sollte das nur enden? Es kam sehr plötzlich und wir kannten die andere Seite des Erfolgs noch nicht. Jeder wollte plötzlich wissen, wer du bist. Das wurde ganz schön viel." Der frierende Mark ergänzt: Wir waren ständig angespannt. Nach jedem Konzert mußten wir Leute treffen, mit der Presse reden, mit Radio-Leuten und den Menschen von der Plattenfirma. Das war einige Zeit sehr hart, denn wir wollten nach den Shows unseren Spaß haben. Aber es waren immer die gleichen Fragen und Gespräche. Andererseits hatten wir mit diesem Pop-Ding, mit der glitzernden Seite, anfangs auch unseren Spaß: jede Nacht in einen anderen Club und feiern. Inzwischen sehen wir das alles etwas lockerer, wir machen einfach nicht mehr alles mit."

emf.jpgIn Berlin kreuzte schon drei Stunden vor Konzertbeginn ein Trupp beinharter Kinderfrauen auf, die hofften, ihre aktuellen Lieblinge irgendwie abfangen zu können. "Wir sehen jetzt vieles gelassener. Es gehört einfach zu unserem Job dazu und ist allemal besser, als ein Job, bei dem du jeden Tag um fünf Uhr raus mußt. Und wir bekommen eben gleich eine Reaktion auf unsere Arbeit, ob die Leute unsere Platte kaufen oder in die Konzerte kommen oder nicht", berichtet Ian.
Heutzutage also keine Teddys und Plüschhäschen mehr, dafür aber deine wilde Show. Für EMF wir die Bühne zur Kraftsporthalle. In kurzen Shorts und alsbald freien Oberkörpern hopsen, rennen, turnen und springen Jam Atkin, der öffentlichkeitsscheue Sänger, Derry Brownson (key), Zak Foley (b) und eben Gitarrist Ian Dench und Trommler Mark Decloedt über die Planken. Das wird ohne Unterlaß hart gearbeitet. Wesentlich härter ist auch ihr Sound geworden, da donnern die Gitarren mit Karacho aus den betäubenden Boxen. Die fünf Jungs hatten echten Frust, sie wollten nicht mehr als Pop-Kapelle behandelt werden. Ian sagt dazu: "Es gab keinen konkreten Beschluß oder so. Aber nach unser LP ‚Schubert dip' und dem großen Erfolg in den Charts achten alle, wir sind auch bloß so eine blöde Popband. Aber jeder konnte sehen, daß die Songs sehr intensiv waren, und ich denke, es ist ein sehr brillantes Album. Danach passierte dann dieser Kurswechsel. Wir waren ja zwei Jahre nur unterwegs und spielten Konzerte, richtige Rock-Konzerte. Unser Sound wurde immer härter, wir benutzten mehr Noise. Diese Energie des Livespielens war sehr wichtig beim Schreiben der neuen Songs. Wir wollten diese Live-Energie auf Platte bannen und haben das zuerst auf der Platte ‚Unexplainded' versucht, dabei haben wir etwas herum experimentiert und sind dem näher gekommen. Das haben wir auch auf der neuen Platte gemacht und man kann sagen, ‚Stigma' spiegelt die letzten beiden Jahre EMF wieder. Es war also keine bewußte Entscheidung, den Sound zu verändern, sondern mehr ein Prozeß." Verfolge den Prozeß, Publikum!
Das klingt nach Image-Problemen innerhalb der Band. Find ich bestrickend, daß Steffi Graf die Schule doch noch zu Ende machen will, oder: "Jeder kann alles lernen" - wie mein sozialistischer Taufpate Hermann Duncker immer wieder gern sagte. Gerade 18, sattelten die EMF-Burschen direkt von der Penne in die Schule des Lebens um und kamen ganz beachtlich in der Welt herum. Andere müssen dafür lange sparen. "Eine Show ist erst mal eine Show, egal wo. Natürlich unterscheidet sich das Publikum von Land zu Land. In England sind die Kids wilder als in den Staaten. Die großen Städte sind aber überall ähnlich und verwöhnt, wie da alle Bands vorbei kommen", berichtet Ian. Mark wickelt die bleichen Arme aus den Decken und Mänteln und schreit gestikulierend: "Sehr beeindruckend war es in Mexico! Da sahen wir Blinde, die offenbar 24 Stunden lang im Stoff waren. Das Stage-Diving war völlig verrückt, so was hab ich noch nie erlebt. Absolut schockierend!" Gut drauf, die Mexicaner.
Auch in Berlin wurde eifrig von der Bühne gehopst, dem besten Freund immer mit den Stiefeln ins Auge. Live strahlen EMF tatsächlich eine Menge Intensität ab, ohne je wirklich hart zu sein. Sie geben integren Pop, hat etwas forscher vorgetragen. Sie selbst sehen sich ja inzwischen eher in der Rock-Tradition. "Meine Gitarre hat ihre roots bei Cream und den Doors, ich kam vom Punk-Rock, Mann", reklamiert Ian. Dazu paßt auch, daß die fünf Londoner ihre neue Platte in den Rockport-Studios in Süd-Wales aufgenommen haben, in deren ländlicher Idylle auch schon Led Zeppelin gearbeitet haben. Ein geweihter Ort also. Mark, jetzt wieder bibbernd: "Rockport ist der ideale Platz um aufzunehmen. Queen waren zum Beispiel auch dort. Wir haben da das meiste für ‚Stigma' eingespielt, die anderen Sachen wie Piano, Sequenzer und Chöre haben wir in London fertig gemacht."
EMF also auf dem Weg in die Rock-Geschichte? Wer weiß. Aber nun sind sie erst mal wieder auf den Straßen dieser Welt unterwegs, auf der Suche nach noch verrückteren Stage Divern als in Mexico.

R. Galenza NMI/ Messitsch 1/1993 S. 20/21