Primal Scream - Ein Londoner Urschrei
Er will hoch hinaus, "higher than the sun", der kleine, dünne Bursche. Bobby Gillespie ist auf der Suche nach dem allumfassenden Weiter. Gillespie ist der Sänger von Primal Scream und vielleicht eines meiner eher wenigen Idole im Pop-Geschäft. Aber woran erkennt man sein Idol? Vielleicht an einer achtstündigen Hin- und Rückfahrt von Berlin nach Hamburg, nur um eine halbe Stunde mit ihm reden zu können. Sich bei ihm persönlich nach Jesus & The Mary Chain und der verschollenen "Class of 86" zu erkundigen.
Bobby ist müde durch die Ochsentour durch diverse Interviews mit den immer gleichen Fragen. Gelassen schlürft er seinen Kaffee. Er ist schon so lange in diesem Zirkus dabei. Zuerst wurde er als lethargischer Standschlagzeuger der Feedbackgeilen Jesus & The Mary Chain bekannt. Schottische Wirrköpfe aus den Bergen. 1984 stieg er aus und gründete nach einer Urschrei-Therapie aus den Sechzigern, die sich auch John Lennon antat, seine Band Primal Scream. Heute noch mal über die Reid-Brüder und Mary Chain zu reden, hatte Gillespie keine große Lust, es reicht gerade zu einem "ich hatte eine gute Zeit damals, wir sind auch jetzt noch befreundet".
Primal Scream brachten seinerzeit tolle Singles raus, wie das naive "Velocity girl" und das bizarr hoppelnde ""It happens". Alles strahlende, unvergängliche Zwei-Minuten-Perlen. Vom englischen NME damals hurtig in die "Class of 86" eingeschult, gemeinsam mit Bands wie Wedding Present, A Witness, Stump, Mighty Mighty oder den Shop Assistants. Heute bemüht sich Gillespie eher um Abstand, er meint: "Ja, wir waren damals alle auf dieser Cassette im NME, es gab so eine Art neue Inspiration. Aber die meisten Bands sind ja über eine LP nicht hinausgekommen und haben sich aufgelöst. Ich hab sie aus den Augen verloren, wir waren aber auch zu verschieden."
Primal Scream waren zu dieser Zeit immer irgendwie daneben und unfertig, sie brauchten immer etwas zu lange für eine ganze LP. "Sonic Flower Groove", produziert von Mayo Thompson, erschien 1987. Zwei Jahre später folgte die etwas steif wirkende "Primal Scream", mit der sich Gillespie vom enttäuschten Wimp-Rock zum derben Rocker emanzipieren wollte. Allerdings findet man hier schon das später explodierende "Loaded". Denn die Insel lag längst wieder in einem neuen Fieber, die Gitarren lernten tanzen. Gillespie hatte sein Dance-Coming-Out auf einer Warehouse-Party in Brighton. Er berichtet: "Los ging es so 88 mit Acid-House. Das hat in den Köpfen viel verändert, auch bei mir. Es gab wieder so eine Aufbruchstimmung wie damals beim Punk, obwohl das was anderes war. Es gab riesige Parties voller Drogen, die hatten viel Energie."
Auf seine Haltung zu Drogen angesprochen, geht ein Ruck durch den Mann: "Die Leute reagieren ganz verschieden drauf, daß muß jeder selbst wissen. Ich glaube aber, daß niemand das Recht hat, da über andere Leute zu bestimmen. Der Körper gehört ja jedem selbst. Es ist dasselbe wie mit den Homosexuellen, die in England ziemlich diskriminiert werden. Und Drogen können ja auch stimulierend wirken."
Bobby inhallierte den Groove in den Stroboskobblinden Nächten, in den süchtigmachenden Clubs, aber irgendwie war er schon vorher drauf, denn "ich hab immer schon viel schwarze Musik gehört, vor allem Disco und Soul aus den Sechzigern und Siebzigern, aber auch Gospel und Blues. Und dann kamen die ganzen House-Parties. Der entscheidende Kick für mich war wohl Acid-House."
Bobby blieb zwar im Herzen ein Rocker, aber er ging daran, die festen Bandstrukturen aufzulösen. Und plötzlich landet eine Band wie Primal Scream mit "Loaded" und "Come together" zwei durchgeknallte Hits. Bei seinem Labe Creation Records dreht deswegen niemand durch, denn da herrscht eher Familien-Atmospähre als Chartsdrang. Gillespie begründet: "Alan McGee kenne ich nun schon so lange, er ist längst ein guter, alter Freund. Die meisten Leute bei Creation sind meine Freunde, es ist aber auch keine dieser normalen Plattenfirmen." So spielt auch Martin Duffy von The Felt auf dem neuen Scream-Album Cembalo.
Bobby Gillespie lehnt sich zurück und gießt sich genüßlich Kaffee nach. Irgendwie wirkt dieses spillrige Kerlchen jetzt entspannt. Mit der dritten Platte, "Screamadelica" ist ihm aber auch eine schöne, in sich ruhende und relaxte Platte gelungen, die von allen Epochen elektrisch verstärkter Beatmusik etwas weiß.
Electric Galenza Nov. 1991 NMI/Messitsch 3/1991-92 S. 18