Einstürzende Neubauten - Zu spät um makellos zu sein
An der S-Bahnstrecke Richtung Norden, kurz vor Berlin-Buch, erheben sich rechter Hand zwei bröcklig-desolate Neubaublocks. Schuld schien die örtliche Wohnungsverwaltung, später kam heraus, das die Gebäude Übungsgelände für den Häuserkampf waren. Herr Galenza begibt sich in "Haus der Lüge", um seine Geschichte der Einstürzenden Neubauten zu schreiben.
Es war Mitte Mai, die achte Dekade dieses Jahrhunderts erreicht den Kalender. Es war warm und wir hatten reichlich Wein dabei. In Lanke, einem Dorf vor Berlin, gab es eine Heilanstalt für geistig Behinderte. Lanke war auch der Ort meiner Jungensstreiche: meinem Opa zerstach ich hier lustvoll die Saatgutsäcke, zertrat im Garten glitschige Weinbergschnecken und mußte zur Strafe tagelang Johannisbeeren pflücken, stramm in den deutschen Farben: schwarz, rot, gelb.
Jahre später lungerten wir um ein offenes Feuer, tranken und gedachten Bob Marley. Vorträge wurden gehalten, Theorien gekungelt, Musik zelebriert. Mit der Dunkelheit kam der Regen, die Langhaarigen und Batikkleider flüchteten zum Tee und zu endlosen Gesprächen über Donovan und Cat Stevens. Wir anderen drei klauten aus dem Schuppen des Hausmeisters ein altes Röhrenradio, klinkten den Sonett-Recorder ein und was folgte hörte auf den Namen Kollaps! Im peitschenden Regen tanzten drei ausgeflippte Rumpelstilzchen brüllend ums irritierte Feuer. Negativ Nein! Wir rollten uns im Schlamm, es brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Höre mit Schmerzen! Es gab den obligatorischen Zoff, der Hauswart führte seinen eigenen Veitstanz auf - Tanz debil!
Einst galten die Einstürzenden Neubauten als aggressiv, wild und gefährlich - destabilisierende Schmiede des Großstadtmülls und Soundtrackler des Häuserkampfs. Es war Krieg in den Städten und die Band posierte mit ihrer Stahlwerksinfonie vorm Berliner Olympiastadion. Sie schenkten der geteilten Stadt einen Mythos für die achtziger Jahre.
"Solange die Mitte noch leuchtet, macht es noch Spaß", erklärt mir F.M. Einheit nach 13 Jahren Bandgeschichte. Wer oder was die Mitte ist, sagt er nicht. Nach drei Jahren Schweigen erschien nun "Tabula Rasa", das neue Album. Mufti erläutert: "Tabula Rasa hat aber nichts mit der Musik zu tun. Und 13 Jahre sind eine verdammt lange Zeit, die Beatles gaben ja vorher auf. Ich denke, wenn man sich über eine relativ lange Zeit in der deutschen Kultur herum treibt, das dann die deutsche Kultur im besten Falle auch etwas davon merkt. Wir wollen Spuren hinterlassen."
Am Anfang waren Schrott, Teer, Zivisilationsmüll und Chaos, das Hirnlego fand unter Brücken und in Bunkern statt. Ein lichtloses Völkchen. Heute gibt es zu bundesweiten Platten-Präsentation Milchkannen voller Sekt, Zuber mit Lachs und Bottiche voller Kaviar. Wir schreiben 1993 und die Neubauten sind weder Dilettanten noch genial, sondern ausgebuffte Medienprofis. Blixa Bargeld gesteht denn auch: "Um ehrlich zu sein, sind wirklich innovative Forschungen bei uns doch bereits seit 1983 ausgereizt. Damals schlugen wir noch auf allem herum, was irgendwie geil klang. Egal ob das Mülltonnendeckel aus Dachau oder zuckende Fleischstücke waren. Spätestens seit 1985 jedoch, als uns Depeche Mode für "People are people" sampelten, waren wir berechenbar. Uns geht es jetzt, am Anfang des neuen Jahrzehnts, eher um die irreversible Einmaligkeit der Songs."
Auch diese Revolution hat ihre Kinder längst gefressen. "Kollaps" wurde für schlanke 5.000 DM produziert, "Tabula Rasa" fraß da schon einiges mehr, genauer: 235.000 deutsche Mark. "Natürlich haben unsere diversen künstlerischen Verstrickungen und Auftragsarbeiten vom allem ökonomische Gründe. Wenn man sich wie wir jenseits des Pop-Mainstreams bewegt, muß man halt sehen, wo man bleibt. Unsere Ansprüche sind gestiegen", schildert der Bandchef lakonisch.
Dazu paßt, daß die Verpackung der neuen CD mit einem computerbearbeiteten Stilleben des Niederländers Ambrosius Bosschaert von 1635, mittlerweile teurer ist, als die reinen Preßkosten. Sieht aber gut aus und ich kenne eine Menge Leute, die sich das als Plakat in ihre Unterkunft hängen werden. Die neue Musik der Berliner ist sowieso komplett Wohnzimmer-kompatibel. Da liegt die Vermutung nahe, daß die Neubauten nicht nur den break even schaffen, sondern auch in Verkaufsdimensionen der Toten Hosen und Voodoo Boa's vorstoßen wollen. "Das ist Quatsch", reklamiert F.M. Einheit, "es ist eher oft so, daß wir letztendlich erst wissen, was wir da gemacht haben, wenn wir alles in der richtigen Reihenfolge hören. Und wenn unser Zeug jetzt Popmusik ist, dann kann man andererseits sagen, es ist um die Popmusik traurig bestellt. Oder wir haben unser Ziel erreicht, Popmusik soweit zu bringen, daß es auch für unsere Sachen eine größere Akzeptanz gibt." Kein Bestandteil sein?
"Die Zeichnungen des Patienten O.T." hörte ich 1983 bei einem Freund mit schwarzen, klobigen Stiefeln zwischen Zimmerpalmen und selbstbemalter Keramik. Seine Freundin sollte sich später umbringen. Wir waren verwirrte, hospitalistische Punk-Kinder und labten uns an Andrew Unruhs "Durstigem Tier". Zerschunden und erschöpft wärmte ich mich dann nachts im fahlen Flüstern dieser Stadt an Zeilen wie "Alles ist Muzak, alle werden gleich, wie spät mag es sein?". Unsere Ohren waren noch Wunden und unsere Wohnhaft zerstörte Zellen. Plötzlich waren alle nur noch "Mensch".
1985 gingen die besten Künstlerfreunde ein paar Straßen weiter ins andere Deutschland. Ich preßte in einer grindigen Obstbude Äpfel und Birnen aus und tanzte mit Obstwein um das "ZNS". "Mensch" war plötzlich Pop! Die Einstürzenden Neubauten verließen die finstren Kanäle und Schächte, sie wurden 12 Meter groß und Dienstreisende im Auftrage des deutschen Goethe -Instituts. Das Feullition lechzte nach unangepaßt Schrägem.
Wir probten den Gegen-Sex, die Neubauten polterten auf der ´82er "Dokumenta" und der Pariser "Bienale" rum. Keine Schönheit ohne Gefahr. Wir sahen uns im ZDF-"Aspekte" wieder. Unsere alten Waffenbrüder, die Japaner, drehten zu "Mensch" einen schaurig-schönen Film, dessen Aufführungsrechte die Band jüngst zurück erworben hat. Anfangs ließen sich die fünf sowieso mächtig im Äther braten; von Some Bizarre, ihrem ersten Plattenlabel, sahen sie nie einen roten Heller und prozessieren noch heute gegen den exzentrischen Stevo. Da kann schon mal die Seele brennen.
1986 trat ich in den Dienst Gottes und wurde Domestique. Für 110 Ost-Mark gesorgte ich mir die "Fünf auf der nach oben offenen Richterskala"-LP und war das erste mal so richtig enttäuscht. Mittlerweile gab es Wichtigeres, Spannenderes, ich fütterte mein Ego mit anderem. Wie auch die Neubauten selbst. F.M. Einheit kannte Peter Zadek aus seiner Zeit in Bochum, als er als 16jähriger voller Begeisterung ins Theater eilte. Die Band folgte Jahre später und heftig umstritten, Zadeks Ruf nach Hamburg, aber Mufti hat damit kein Problem. "Als wir 'Andi' in Hamburg gemacht haben, war das Deutsche Schauspielhaus direkter Konkurrent zu McDonalds. Weil es Leute gab, die sich das Stück 18 bis 20 mal reingezogen haben. Die haben sich ihre Lieblingsszenen angeschaut und sind dann rausgegangen, was trinken oder Freunde treffen." Sehnsucht ist die einzige Energie. Die Neubauten waren erwachsen geworden. Marc Chung trug plötzlich nur noch schmucke Maßanzüge und gründete seinen Musikverlag Freibank. Nick Cave verschlugen die Neubauten den australischen Atem, er heuerte Bargeld für seine Bad Seeds an, womit Blixa seinen nicht unbeträchtlichen Lebensunterhalt einspielt. Gitarrist Alex Hacke machte ebenfalls auf australisch, er stieg bei Simon Bonneys Crime & The City Solution ein. Andrew Unruh ging mit den kalifornischen Performern Survival Research Laboratories auf Klangreise und F.M. Einheit beschloß: "Ich wollte ans Theater und so ist es dann auch passiert. Ich hatte einfach die Schnauze voll davon, immer in den gleichen Clubs vor den immergleichen Leuten zu spielen. Also suchte ich mir neue Herausforderungen um an meine Grenzen zu gelangen."
Im Herbst `89, genau 42 Tage nach dem großen Loch in der Mauer, begegnete ich Blixa und Mufti das erste mal persönlich. Sie standen auf der Bühne des VEB Elektrokohle in Berlin-Lichtenberg und hatten Heiner Müller backstage mitgebracht. Den kannten sie schon länger, hatten sie doch auf dem Areal des Staatlichen Rundfunks für die "Stimme der DDR" zwei Hörspiele aufgenommen: "Bildbeschreibung" und "Hamlet" in eben der Müller'schen Fassung.. In der durfte Blixa Bargeld nun endlich mal er selbst sein, nämlich Hamlet. Ich erkundigte mich, wie sie diese Stasi-Hysterie um Heiner Müller empfinden? F.M. Einheit dazu: "Zum einen hat man es irgendwann auch statt. Es ist einfach albern, wie bei ihm jetzt auf diesen Sachen herum gehackt wird. Wie viele deutsche Nazi-Richter gibt es zum Beispiel noch? Zum anderen halte ich es einfach für völligen Unsinn. Ich find auch gut, daß Heiner sagt, ich hab nicht genug Zeit, mich zu solchem Unsinn zu äußern, ich hab am Schreibtisch zu arbeiten." Ihr Special-Edition-T-Shirt mit DDR-Emblem und umgestürztem Bundesadler trug sich seinerzeit vorzugsweise bei Fernseh-Interviews.
Meine ersten angemessen sozialistisch vor sich hin faulenden Neubauten erlebte ich in Leinefelde, einer schmuddligen Textilarbeiter-Ansiedlung im thüringischen Eichsfeld. Abends waren wir dann bei Brigitte Stefan & Meridian, der ostdeutschen Ideal-Instand-Band. Aber die Leidenstour DDR begann für die Westberliner Band schon Jahre vorher. "Wir hatten ja über Jahre versucht reinzukommen, um hier live zu spielen", schildert Mufti. "Da betrieb die Stasi ihre abstrusen Spiele, da gab es die obskursten Einschätzungen. Beliebt war zum Beispiel zu sagen, wir seien Rechtsradikale oder ein anderer guter Satz war: Einstürzende Neubauten gibt es in der DDR nicht."
Für viele aus der gesamten DDR angereisten Fans waren diese beiden Konzerte im Herbst `89 eine musikalische Weihe. Ich wurde in dieser Nacht zum Ost-Musikexperten des TIP-Stadtmagazins bestellt. Ich schlug ein "Tempo"-Angebot aus, während vor der rumänischen Botschaft in Ost-Berlin die wütenden Demonstrationen gegen die blutigen Massaker in Timisoara und anderswo in Rumänien weitergingen.
Bargeld war längst "ein viele Monde thronender Dandy auf einem Pferd. Um später zurück zu kehren, ganz aufgedunsen und nur noch kleine Kreise ziehend. Aber..." Auf einmal Lärm. Während der Berlin Independence Days im Oktober 90 stand ich mit Diedrich Diederichsen an der Bar des umgebauten und nun durchgestylten "Quartier" in der Potsdamer Straße. Wir debattierten über Sinn und Effekt von Laser-Licht im heraufziehenden Techno-Gewitter. Blixa bekundete darüber sein Unverständnis und geriet deshalb mit Uwe Klinkmann (SPEX-Autor) in eine wüst-sinnlose Prügelei. Lärm. Monika Döring und Umstehende versuchten zu schlichten, während Barry Adamson verwirrt kicherte. Willkommen im Haus der Lüge, eitles Biest am Himmel. Feurio!
Jahre später erkundigten sich die famosen Lassie Singers im "Ex & Hopp" beim Neubauten-Sänger nach seiner Meinung zu ihrer Cover-Version von "Letztes Biest", einem heiter-ironischen Country-Stomper. Herr Bargeld war beleidigt. Neue Platte, neues Glück? Draußen ist immer noch feindlich, die Welt wird einfach nicht besser. Die Macht der Nacht oder: "nachts tanzt die Wahrheit mit der Lüge". Bargeld besingt in seiner "12.305ten Nacht" auch nicht nur Frohsinn, denn "was bleibt ist Alkohol und dumpfe Träume".
Drei Jahre liegen zwischen dem letzten und dem aktuellen Opus der Einstürzenden Neubauten, F.M. Einheit erklärt das so: "Als wir angefangen haben die neue Platte aufzunehmen, gab es erst mal ein Auftragswerk der kanadischen Ballettgruppe La La La Human Steps. Das war vor zwei Jahren und es tobte der Golfkrieg. Das hat unsere Arbeit natürlich beeinflußt. Es mußt brennendes Öl her, dann haben wir Plastiktüten verbrannt und das Heruntertropfen aufgenommen. Wir haben sozusagen einen Giftgasangriff im Studio simuliert." Dazu gehört auch, daß sie, Weltpolitik inhalierend, von "Desert Storm" und blakenden Fackeln beeindruckt, die Stahlrohre im Studio in "Scud" und "Patriot" umtauften. Der Track "Wüste" war anfangs nur ein Sack Kies, obwohl die Jungs ihre eigenen Erfahrungen in der Mojave-Wüste sammelten. Später durften dann reale Streicher diesen rinnenden Sand verschönen. F.M. Einheit vertritt da seine ganz eigene Philosophie: "Es macht einfach Spaß mit Sand und Steinen zu spielen, ich möchte meinen eigenen Klang, meine eigenen Sound erzeugen. Andrew geht halt einen anderen Weg, er versucht Musik an sich überflüssig zu machen, indem er Maschinen konstruiert, die nur noch sich selbst spielen."
"Tabula Rasa" macht gar nicht so sehr reinen Tisch, sondern bemüht sich hörbar um Transparenz und Vielfalt. Es hat Drama, Funk, Oper, Gospel, Sanftheit und Grooves, vielleicht beeinflußt von Bargelds Singsang bei Alert, einem Projekt der Berliner Band Die Haut. Die Tracks stehen mehr nebeneinander, als das sie sich etwas zuzuraunen hätten. Blixa faßt das so zusammen: "Ich will letztendlich die Rückführung aller Utopien in den Raum ihrer konkreten Übersetzung: Nirgendheim. Als ich gestern zum Beispiel neben meinem Swimming Pool im Hotel lag und in den Fitneßraum nebenan sah, auf dessen Monitor eine 24stündige MTV-Tapete läuft, kam ich ins Grübeln und machte mir erneut klar, daß alle weltlichen Utopien verbraucht sind. Egal ob Jugendkultur, Volksrepublik China, RAF, Baghwan-Staat oder sozialistische Systeme - alles ist von Fehlern durchseucht. Man muß alle Utopien von den Schändern ihrer Verwirklichungsversuche befreien und sie ins Nirgendwo verbannen. Eine zentrale Utopie, an die ich glaube - das könnte das Ergebnis von 'Tabula Rasa' sein - ist wohl die Liebe." Oh. Doppel-Peace! Am schönsten ist diese Platte, wenn ihre Songs die Ruhe bewahren, wie in "Blume" mit Anita Lanes weichem Gesang oder "Zebulon". Interessant auch die filmische Erzählweise in "Sie", ewig auf der Flucht im Opferlammdessou.
EPILOG: Blixa Bargeld ist derzeit in der Hitze Australiens mit Nick Cave auf Tour. Crime & The City Solution gibt es nicht mehr. Alex Hacke kümmert sich um die Jever Mountain Boys, ein krude Country-Combo, und veröffentlicht demnächst auf dem Neubauten-eigenen Label "Ego" seine Filmmusiken. Ebenda erscheinen die von F.M. Einheit bearbeiteten Theaterstücke "Prometheus" und "Lear". Und natürlich kann man die Neubauten alsbald auch live beim Einstürzen besichtigen. Ich allerdings, ich verlaß sie - ungetäuscht.
R. Galenza NMI/Messitsch, Heft 4/1993