Norbert Thiel - Der Maler als Porträt

nt-er.jpgEs war ein Donnerstag, klamm und kalt. Wir strömten aus dem Szenetreff "Kino Babylon", die Blues-Rockband "Engerling" hatte uns den trostlosen Abend verschönt. Vorm Kino sammelte sich das illustre Völkchen der unangepaßten Jugend im Berliner Osten. Was nun? Der junge Kunst-Kritiker Christoph Tannert, in schwarz-weiß längsgestreifte Hosen und schwere Lederjacke gewandet, stellte mir einen noch viel jüngeren, spillrigen Kerl mit markantem Gesicht vor. Wie sich herausstellte, war der gerade mal 21, hatte aber schon eine recht gefestigte Meinung über sich. Dieser sperrige Kerl fiel durch lautes Rufen und eine seltsame Frisur auf. Er war auch ganz seltsam bekleidet. Das sollte bleiben, machte ihn aber interessant. Denn die anderen sahen aus wie alle. Er wollte Beweise für seine Unsterblichkeit, so früh schon. Wir verstanden uns von Anfang an. Nach allerlei Kennlern-Monologen fuhren wir noch in die Wohnung vom Kunstkenner Tannert in die Wühlischstraße ins mutlose Friedrichshain. Schlimmen Wein hatten wir am Mann, fanden aber nur noch ein einsames Glas Rotkohl, das wir halbherzig erwärmten. Neben unzähligen Worten kam dann noch ein russisches Tischeishockeyspiel auf den Tisch. Das war der 13. April 1983 am Ende der Welt.

Norbert Thiel wurde im Dezember 1961 geboren. Im Jahr des Mauerbaus. Ein Omen? Ein Zeichen? Seine Stadt hieß Berlin. Ost-Berlin. Seine nähere Umgebung Prenzlauer Berg. Schon mit 17 hatte er eine Wohnung in der Finowstraße im Friedrichshain besetzt, um nach eigenen Vorstellungen zu leben. Von der frischen Malerei der Jungen Wilden im Westen begeistert, malte er zuerst in seiner Bude drittklassig, jung, wild und epigonal. Aber jeder mußte ja mal irgendwie anfangen und junge Menschen sind immer auf der Suche. Hier entstanden seine ersten größeren Bilder, richtige Malerei voller Naivität. Eines Tages fand er einen Zettel vor seiner Tür: "Hallo, wir würden sie gern mal besuchen". Der stammte von der damals schwer angesagten Raab-Galerie in West-Berlin, die viele der Jungen Wilden-Maler unter Vertrag hatte. Wenig später stand dann die Galeristin Ingrid Raab samt dem Kulturmann Girardet von der Ständigen Vertretung der BRD und Sängerin Katja Ebstein auf seiner Matte. Die wollten mal junge Kunst im Osten gucken. Sie haben auch tatsächlich zwei Bilder für 300 Westmark von dem jungen, aufstrebenden Talent mitgenommen. Außerdem brachten sie auch Kunstbücher und Zeitungen mit.

Eine seiner ersten Ausstellungen fand in einem schlichten Kino-Foyer in Berlin-Schöneweide statt, denn wenn man nicht Mitglied im staatlichen Künstlerverband war, waren die Galerien unerreichbar. Die nächste Schau hing bei seinem Malerfreund Michael Diller, der regelmäßig ganz wunderbare, deftige Atelierfeste mit dem kompletten Ostberliner Künstler-Underground veranstaltete. Da konnte man illustre, schräge Leute kennenlernen. Der trinkfeste, junge Thiel war in die Künstlerszene Ost-Berlins rauschhaft schnell integriert, die frühen Initiaonsriten. Über Diller lernte er auch den jugoslawischen Maler Goran Djurovic kennen, dessen Freundschaft er bis heute pflegt. Der bot Thiel auch gleich an, in seinem Atelier in einem aufgegebenen Konsum in Köpenick zu malen.

Jeden Sommer sind große Teile der DDR-Jugend Richtung Osten aufgebrochen, in die wenigen, ein bißchen Ferne und Fremdheit versprechenden Länder Polen, CSSR, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien. Dort war man schon am Weltenrand. Im Sommer 1980 war Norbert mit einem Kumpel nach Rumänien getrampt. Sie wurden aber ziemlich schnell wieder aus Rumänien rausgeschmissen und saßen nun am Balaton in Ungarn rum. In einer ungarischen Stadt in der Nähe lief gerade eine Bauhaus-Ausstellung. Im Zug dorthin wurde er von zwei ungarischen Grenzbeamten kontrolliert, alles in Ordnung. Am Bahnhof wurde er allerdings schon erwartet, ein Grenzer forderte ihn auf mitzukommen. Die Ungarn wollten wissen, wo er hin wolle und wo denn sein Gepäck wäre? Thiel erwähnte die Ausstellung. Der Grenzbeamte erklärte ihm, keine Bange, wir klären das alles gleich, dann könne er wieder gehen. Dieser Kurztrip sollte dann allerdings ein Vierteljahr dauern! Thiel wurde in eine Baracke auf ein abseits gelegenes Militärgelände verbracht. Am nächsten Morgen wurde der Deutsche abgeholt und in eine andere Stadt gebracht, wo er eine Woche in einem kleinen Keller in Einzelhaft saß. Nach einer Woche fuhr man den Inhaftierten nach Budapest und Thiel hoffte, nun ginge es endlich nach Hause. Nach insgesamt drei Wochen in Ungarn tauchte endlich eine Beamte der DDR-Botschaft auf und teilte ihm lapidar mit, gegen ihn liege der Verdacht der Vorbereitung zur Republikflucht vor. Er würde irgendwann nach Ost-Berlin ausgeflogen. Er bat die Dame noch um irgendetwas zu lesen gegen die Langeweile. Sie meinte allerdings nur: er sei hier nicht im Urlaub und hätte sich das alles ja selbst eingebrockt… Eines Tages landete dann ein völlig leeres Flugzeug aus Berlin in Budapest. Mit ungefähr 20 Gefangenen und 20 Stasi-Bewachern an Bord flog die Maschine zurück nach Berlin-Schönefeld. Thiel wurde ins Stasi-Hauptquartier in der Magdalenenstraße gebracht. Nach einer Leibesvisitation ging es weiter in die Keibelstraße am Alexanderplatz in eine 18 Mann-Zelle in Untersuchungshaft. Im folgenden Prozeß forderte die Staatsanwältin anderthalb Jahre Haft für Thiel und anschließend "staatliche Kontroll- und Erziehungsmaßnahmen". Jeder wußte damals, was das bedeutete. Die Richterin entschied aber überraschend auf "einen freiwilligen Rücktritt von einer Straftat". Damit hatten Thiel und sein Verteidiger aus dem renommierten, auf innerdeutsche Angelegenheiten spezialisierten, Büro Vogel kaum rechnen können. Heute würde man das einen Deal oder Freispruch zweiter Klasse nennen, denn eine direkt begangene Straftat konnte dem Delinquenten nie nachgewiesen werden. Nach diesem Vierteljahr war aber auch klar, daß sich Norbert Thiel nie mehr bei der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee bewerben konnte.
In der DDR mußte man einen Job nachweisen, um nicht verhaftet zu werden. Um nicht als asozial zu gelten, fing er bei der "Volkssolidarität" in Lichtenberg an. Das hieß Essen für Rentner austragen. Ein Jahr später heuerte er als Privatsekretär bei der Schriftstellerin Annemarie Auer an. Die verfügte über eine Steuernummer und konnte ihn somit privat einstellen. Mit solchen windigen Anstellungsverhältnissen haben sich viele junge Künstler im Osten durchgeschlagen. Frau Auer besaß eine Villa in Berlin-Baumschulenweg samt Angestellten, ein Haus auf Hiddensee und durfte in den Westen reisen. Man forderte sie mehrfach dringlich auf, doch diesen jungen Republik-Verächter rauszuschmeißen, falls nicht, könne sie ganz schnell alle ihre Privilegien verlieren. Sie hat Norbert Thiel dennoch nicht rausgeschmissen. Seine große Liebe Caroline hatte Norbert 1979 mit 18 durch einen Bekannten kennengelernt. Sie studierte zu der Zeit schon Architektur in Dresden.

nt-lauf.jpgDer Kunstkritiker Christoph Tannert, der Thiel sehr lange kennt, merkt über dessen Zeit im Osten an: "Ein Eintritt in den DDR-Künstlerverband kam für ihn nicht in Frage, niemals. Norbert Thiel wollte malen, nur malen. Lachhaft, sich an Detailproblemen aufzuhalten. Für ihn ging es von Anfang an um Schicksalsfragen. Die Idee, eines Tages von der kleinsten Drehung an den Stellschrauben im Innern des Systems abhängig zu werden, hat er stets von sich gewiesen. Die Selbststilisierung der staatsfrommen Pinselschwinger mit Augenmaß hat er gehaßt, aus ganzem Herzen, die pathetisch aufgeschichteten Komposthaufen der Szene-Expressionisten, die die "Brücke" imitierten, noch viel mehr. Während Gleichaltrige in den achtziger Jahren Geschichte ostentativ durchverhandelten, malte er sich bereits seine Spur in die Gegenwartskunst, auf Fahnenstoff, gestikulierend, laut, ohne Lamento. Für die Kunst der DDR war Norbert Thiel eine Supernova auf Nullkurs, nur Eingeweihte nahmen seine ersten, großen Schritte wahr. Er ging von den Problemen der Kunst aus, nicht von einem volkseigenen ‚Inhalt'. Deshalb konnte es für ihn einen wie auch immer gearteten Realitätsschock nicht geben. Wenn er litt, dann an der Art eines Farbauftrags und an tonalen Indifferenzen."

Ziemlich bedient vom realen Sozialismus auf deutschem Boden, hatte Thiel dann wie viele andere einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt. Ihn trieb eine dringende Neugier an, auf das, was einem permanent vorenthalten wurde. Schon als Kind hatte es ihm keine Ruhe gelassen, nie sehen zu dürfen, was hinter diesen hohen Mauer war. Dabei sah das eher langweilig aus und nicht wie eine Verheißung. Dazu kam, daß für den werdenden Maler nach seiner Verhaftung keinerlei Chance mehr bestand, Kunst zu studieren. Nach seiner U-Haft hatte die Stasi ihn natürlich weiter im Visier. Der Querulant sorgte mit kruden Aktivitäten und Schweijkschen Aktionen dafür, daß seine Akte beim MfS ständig dicker wurde. Einmal hatte er offiziell eine Demonstration angemeldet: er wollte auf dem zentralen Alexanderplatz den Passanten Ausschnitte aus der DDR-Verfassung zur Unterschrift vorlegen, ohne das die wußten, daß es sich dabei um die Verfassung handele. Er wurde wochenlang beschattet. In seinem Haus in der Finowstraße wohnte ebenfalls ein Stasi-Mitarbeiter, Genosse Ißmann. Um den zu provozieren, nagelte Thiel Losungen wie "Marx ist tot! Lenin ist tot! Und mir ist auch schon ganz schlecht…" an seine Tür. Am 18. Mai 1982 verwickelte eben jener Genosse Ißmann den Thiel im Hausflur in ein Gespräch. Seine Stasi-Akte hat auch das akribisch festgehalten. Darin kommt der MfS-Unterleutnant Bergemann zu dem Schluß: "Im allgemeinen entstand der Eindruck, daß Genosse Ißmann trotz seiner Bereitwilligkeit den Thiel in seinem Intellekt unterschätzt hat, und Ißmann es trotz seiner Parteiverbundenheit schwer haben dürfte, den Thiel mit seine Argumenten zu beeinflussen." Am Ende umfaßte die Stasiakte Norbert Thiel 800 Seiten. Irgendwer gab ihm beizeiten den Tip, daß die Wartezeiten für Ausreiseanträge extrem lang sind. Also mußte eine neue Variante her. Wohlmeinende Bekannte wollten ihm einen Arbeitsaufenthalt an einem Theater in Österreich organisieren. Plötzlich ging alles ganz schnell. Im Sommer 1983 hatte Norbert Thiel diesen Antrag abgegeben, im November kam schon die Genehmigung für die Ausreise nach Österreich.

In der ersten Woche im Westen hat er bei der Schwester des Malers Salomé in Kreuzberg gewohnt. Die hatte ihn schon zuvor in Ost-Berlin besucht. Am ersten Abend ging es gleich zum Begrüßungszechen in die "Oranien-Bar", in die Stammkneipe der Jungen Wilden der Malerei. Während sich die anderen Neuankömmlinge aus dem Osten erstmal lange krankschreiben ließen, fing Thiel sofort an, im Drei-Schicht-Betrieb in einer Pizzabude im Wedding zu arbeiten. Er besorgte sich ein übles Loch als Wohnung im schönen Wedding, nicht weit von seiner Pizzafabrik. Dort mußte er am Band gemeinsam mit alten, gestandenen Türken in flottem Tempo per Hand Pizzaböden belegen. Ein Knochenjob. Später durfte er schon die Salami mit einem Edelstahlwagen an das Band fahren. Nach einem Monat hatte er die Schnauze voll. Er heuerte wenig später bei der Werbeagentur GKM an und klebte Kino-Anzeigen zusammen. Dafür gab es immerhin einen Ausweis für diverse Kinos. Damit konnte er für ein Jahr samt Begleitperson umsonst in alle Vorstellungen gehen. Innerhalb eines Jahres hatte der einstige Ostberliner alle bisher versäumten Filme nachgeholt.

Nach seinem ersten Jahr voller neuartiger Erfahrungen ging ihm West-Berlin mittlerweile auf den Sack und er bewarb sich 1985 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Der Bewerber hatte sich mit seiner Bewerbung nicht wirklich Mühe gegeben und nur eine einfache Mappe mit Zeichnungen eingereicht. Es gab sehr viel mehr Hoffende als Studienplätze. Mit viel Glück wurde er dort aber angenommen. Besonders angetan war er an der Hochschule von seinem Professor Hermann Albert. Dessen Schüler kannte Thiel schon vorher, denn die waren parallel in derselben Galerie in Berlin wie die Jungen Wilden, aber das komplette, künstlerische Gegenprogramm: Neo-Klassizisten, sehr streng. Die Malerei der Jungen Wilden mit ihrem breiten Pinselstrich langweilte den Studenten Thiel bereits und Professor Albert war ein Grund mehr für ihn, zum Studium nach Braunschweig zu wechseln. Diese Neu-Klassizisten hatten einen italienischen Mentor, Giovanni Testori, einen feinen Intellektuellen, der u.a. das Drehbuch zum Film "Rocco und seine Brüder" geschrieben hatte. Dieser italienische Gentleman war wiederum großer Fan von den Arbeiten des Professor Albert, er nannte seine Richtung "Nuovo Ordinatori" - "Neue Ordner". Thiel begann seine Ost-Themen zu verarbeiten, er malte riesige Stalin-Bilder und realistische Porträts. Später kamen große, klassizistische Köpfe hinzu. Der junge Kunststudent besuchte in dieser Zeit diverse Ausstellungen, die jenseits des Mainstreams lagen und nicht allgemein goutiert wurden. Thiel war auf der Suche nach dem Anderen. Als gegenständlicher Maler war er allerdings ständig in nervtötende Diskussionen mit den abstrakten Modernisten verwickelt. Norbert Thiel blieb einfach bei sich selbst, er war niemals modisch.

nt-pferd.jpgSolange Caroline nicht ausreisen durfte, traf sich das junge Glück immer wieder in der Tschechoslowakei, besonders Böhmen mit seinen herrlichen Schlössern hatte es ihnen angetan. Sie kam im Sommer 1986 in Braunschweig an und konnte dort ihr unterbrochenes Architektur-Studium fortsetzen. Die beiden suchten sich eine kleine Zwei-Zimmer-Neubauwohnung, die aber eigentlich nur zum Schlafen diente. Denn die meiste Zeit hingen sie an der Hochschule rum, das Atelier wurde Wohnung. Und gefeiert und getrunken wurde permanent. Anfang Dezember 1986 haben Caroline und Norbert endlich geheiratet, in Braunschweig. Eine richtige Künstler-Freak-Hochzeit im Atelier in einer alten Fabrik mit guten Freunden und Kollegen. Alle ihre Verwandten saßen ja im Osten fest. Trotzdem eine rauschende Vereinigung. Norbert Thiel war 1989 fast mit seinem Studium fertig, eigentlich wollte er anschließend nach Köln gehen. Aber eines Abends lag er im Bett, schaute Fernsehen und glaubte, er sieht nicht richtig: die Ostler machten kollektiv rüber, die Mauer war auf. Es riefen umgehend alte Freunde aus Berlin an, er müsse sofort kommen! Aber er hatte keine Lust, er wollte sich die Wende lieber im Fernsehen anschauen. Anfang Dezember fuhr er dann los. Am Grenzübergang Heinrich Heine-Straße beschied ihm ein nervöser DDR-Grenzer mit, Herr Thiel dürfe nicht nach Ost-Berlin einreisen, die Maßnahmen gegen ihn blieben bestehen. Wütend teilte der Ex-Ostberliner der Uniform mit, deren Job gäbe es in ein paar Wochen gar nicht mehr. Erst zu Weihnachten 1989, endlich zu Besuch bei seinen Eltern, sah er seine alte Heimatstadt wieder.

1990 waren beide mit dem Studium fertig. Caroline hatte bereits Angebote von Berliner Architektenbüros, also gingen sie zurück nach Berlin. Sie zogen zuerst in eine kleine Ostberliner Wohnung am Strausberger Platz, gesäumt von hohen Häusern im stalinistischen Zuckerbäckerstil. Später wechselte das Paar die Straßenseite und zog in eine große, schöne Wohnung im ehemaligen "Haus des Kindes" mit Ausblick bis zum Alexanderplatz. Ins "Haus des Kindes" kamen dann tatsächlich ihre beiden Kinder: 1993 Elisabeth und 1999 Heinrich.

Die großen, klassizistischen Köpfe hat Norbert Thiel bis zur Geburt seiner Tochter gemalt. Gänzlich aufgehört damit hat er allerdings nie, es kam eher immer ein neues Sujet dazu. Nach der Geburt hat er sich religiösen Motiven zugewandt. Das hatte ideelle und artifizielle Hintergründe. Thiel fühlte sich als Katholik in Berlin wie in der Diaspora und hat zu der Zeit einen Priester aufgesucht. Er erhoffte sich die fehlenden Sakramente. Schon als Kind ist er fleißig zum Konfirmationsunterricht gegangen, aber irgendwann war er dazu zu faul und ließ es sein. In reguläre Gottesdienste ging der Maler eher selten, denn er singt nicht gern in Gesellschaft. Allerdings seien katholische Gottesdienste von der rituellen Optik weit schöner als protestantische. Thiel malte nun symbolische Engel und religiöse Motive für Glasfenster eines Klosters in Neuss und für eine Kapelle der Alexianer in Berlin. Thiel sucht Bestätigung um die Ecke und nie auf irgendeinem direktem Pfad. Dabei bleiben seine Ansprüche an sich selbst streng.

Norbert Thiel lud mich später zu einer Gruppen-Ausstellung in Berlin-Charlottenburg ein. Ich kam in irgendeine neue, schicke Angeber-Kanzlei, wir hatten Taschenflachmänner dabei, denn Anwälten kann man nie trauen. Da hingen sie: fette Wummen! Großes Kaliber! Thiel war ein bekennender Waffennarr geworden und trat in gleich zwei Schützenvereine ein. In Berlin, wo sich Polizisten treffen und ballern üben und einen anderen in Prenzlau, ein lustiger Orden in der Uckermark. Er machte den Waffenschein und besorgte sich selbst Revolver und Pistole, unter anderem eine 45'er "Heckler-Koch" und ein Gewehr. Er sagte sich, Pistolen sind doch eigentlich ein schönes Motiv, warum sollte es anstößig sein, Waffen zu malen? Daraus entstand seine Pistolero-Serie "Peinture noire - Schwarze Malerei". Die Pistole war lediglich der konkrete Anlaß, so entstanden die abstraktesten Bilder, die er je gemalt hat. Für seine Malerei war es das Sujet, das ihm die meiste Freiheit gelassen hat.

nt-pistole.jpgKünstler feiern Feste. Wo gemalt wird, laß dich nieder. Thiel veranstaltet mit seinen Maler-Freunden illuminierende Parties. Eine Tischtennisplatte voller Wodka und Essen. Diese Parties waren laut und deftig, am Ende bisweilen heftig. Schöne junge Frauen waren da, und ältere Zeichner. Und immer konnte jeder sagen, was er wollte und das meist laut. Ein paar Gläser fielen immer um und getanzt wurde auch. Furios und intensiv. Ich hatte mich auf einem süffigen Atelierfest in eine religiöse Zeichnung von ihm verkuckt und die an diesem Abend gleich mitgenommen. Die sollte unsere erste Unstimmigkeit werden, denn ich überwies dem Meister die fällige Kohle nicht rechtzeitig. Norbert Thiel hatte mir schon früher mal ein Bild geschenkt, kurz vor seiner Ausreise aus der DDR, als ich ihn und Caroline in ihrer Wohnung in der Griebenowstraße besuchte. Wir waren auf Punk und mir gefiel diese Intensität. Damals hatte er die Bilder noch mit seinem Künstlernamen "Toledo" signiert. Später schenkte er mir noch eine riesengroße, sanft-grüne Pistole. Ungeladen, auf Papier. Alle anderen Bilder, die mir gefielen, konnte ich mir leider nie leisten. Aber ich kann sie sehen.


Ihre weitläufigen Latifundien in der Uckermark bewirtschaften die Thiels seit Ende 1993. Sie wollten es wie die Pariser machen, die am Wochenende aus der Stadt flüchten. Um im polnischen Stettin Bilderrahmen machen zu lassen, fuhr Thiel zum ersten mal die A 11 hoch Richtung Polen und entdeckte unterwegs die wundervoll offene und hügelige Landschaft der Uckermark. Das junge Glück erwarb eine desaströse Bauernkemenate in diesem entvölkerten Landstrich, ein Eiszeitsee hinterm Haus. Hier konnte man sich sogar die Toskana imaginieren. Ihr Haus war damals natürlich eine Ruine, die einsam und kaputt in der Landschaft ruhte. Die Kinder können da machen was sie wollen und der Maler auch, ein bißchen Egoismus war also auch dabei. Nach und nach hat die Landschaft dort auch des Malers Bildwelten verändert und aufgebrochen. Norbert Thiel fing dort draußen an, Landschaften zu malen. Die Sommerfeste zu Carolines Geburtstag uferten aus und sind inzwischen legendär. Neureiche und Wendeverlierer strömen zuhauf. Maler, Galeristen, Träumer, Advokaten und Macher. Das ewige Feuer knattert für alle. Und all die Kreativen ballerten plötzlich wie beseelt mit Revolvern durch die dunkle Nacht. Der Alkohol führte ihnen stolz die Hand. Waffennarren als glückliche Kinder. Der Mond schien helle und ihre Augen glänzten. Nachts ging es noch beschwipst durch den unschuldigen Raps runter an den schwarzen See, den Gott der verlassenen Gegend überlassen hatte. Nacht- und Nacktbaden sind hier selbstverständlich. Es war ebenso kalt wie schön. Bei Sonnenaufgang trieb ein singender Galerist in einem alten Kahn auf hoher See durch den Nebel. Schöne ungemalte Bilder. Keine Schönheit ohne Gefahr. Wir lagerten müde, matt, scheintot im ersten Licht. Da war große Harmonie. So eine Art Wärmegefühl in klarer Nacht, weit draußen im Ungewissen. Am Feldrain erschienen zwei strahlende Wesen von unfaßbarer Schönheit. Wie Engel, die die Nacht verschlafen hatten. Alles strahlte und jeder ahnte schon, so schön wird es nie wieder. Mittags knatterte dann die Formel 1 durch die Uckermark. Norberts Galerist Eikelmann hatte eine schnittige Karre dabei, ich mußte zu Thiel in den Turbo. Da saß dieser einst junge, wilde Kerl neben mir, und freute sich wie Bolle, alle Apfelbäume mühelos zu überholen. Wir waren glücklich wie Pferdestärken. Seine undefinierbaren Haare flogen im Fahrtwind und ich dachte, he, sieht aus, als wären wir wieder jung.

Eines Tages las der Künstler, daß der Regisseur Werner Herzog von München nach Paris zu Fuß gelaufen war, um eine alte Schauspielerin in einem Krankenhaus zu besuchen. Daraufhin nahm er sich vor, mal von Berlin in die Uckermark zu wandern. 120 Kilometer sind das. Also traf er sich mit seinem Malerfreund Arnim Tölke. Der aber schickte Norbert Thiel sofort wieder nach Hause, weil der im Cord-Anzug und normalen Straßenschuhen erschienen war. Er sollte sich wenigstens Turnschuhe anziehen. Dann zogen sie los, querfeldein. So fing das an mit dem Wandern. Inzwischen waren sie schon öfter auf dem Treck, mal durch die Vogesen, durch den Naturpark Müritz oder durch die Schorfheide. Immer in Tagesetappen von ungefähr 40 Kilometern. Unterwegs machen sie gerne verbotene Sachen, durchstreifen bevorzugt Sperrgebiete oder Truppenübungsplätze, machen illegale Feuer und haben natürlich ihre Waffen dabei. Diese langen, schnellen Wanderungen bringen nur ein Problem mit sich: sie müssen, um unabhängig zu sein, alles mitschleppen, also auch reichlich Alkohol, 20 Kilo Marschgepäck sind normal. Sie durchstreifen grundsätzlich nur Gegenden, wo kein Mensch ist. Sie wandern durch die Landschaften ihres Lebens, und niemand sucht sie.

Da saßen wir nun im Oberrang des neuen Olympia-Stadions in Berlin. Ein Maler und ein Autor nebeneinander in illuminierendem Licht. Direkt über U 2. Bono begann mit seiner Predigt, wir bestaunten die Massenhypnose einer irischen Band im deutschesten aller Stadien. Es war laut und bunt. Ein seltsamer Weg vom Bahnhof durch Bier und Bratwurst, ein langer Weg vom Anfang bis hier her. Ein schönes, klares Dunkel voller Licht. Thiel mag klassische Musik oder auch Rammstein. Die Überwältigungsästhetik moderner Musik kann beim Arbeiten aber auch behindern und Musik zum Malen braucht er sowieso nicht. Als freier Maler verdient er manchmal Geld, manchmal auch nicht. Alles eine Frage, wie man seinen Lebensstandart definiert. Er führt ein selbstbestimmtes Leben, da muß er eben auch bestimmte Abstriche in Kauf nehmen.

nt-landschaft.jpgDie Bilder die Thiel malt, müssen zuerst ihm selbst gefallen. Suchbilder der Leichtigkeit, eine Sehnsucht nach Inhalten. Er weiß auch gar nicht, was anderen Leuten gefällt. Denn wenn es ihm selbst zusagt, bedeutet das gleichzeitig, daß es ganz vielen anderen Leuten nicht gefällt. Ungehemmter denn je ökonomisiert sich heute das Feld der Ästhetik, das Geld wird zur treibenden, zur allmächtigen Kraft. Und das verändert das Bild und Angesicht von der Kunst. Es verändert die Kunst selbst. Aber Thiel will sich eben nicht verstellen. Solange er seine Miete bezahlen kann, sein Atelier hat und seine Farben, ist alles gut. Er ist der Künstler, alles andere ist Massengeschmack. Denn eigentlich liegen Marktwert und Kunstwert weit auseinander. Er will in dieser Phase einfach nur malen, machen was er will. Der Maler, ehemals Inhaber des Blickmonopols, gerät in eine selbstkritische Stoßrichtung. Wenn sich andere dadurch provoziert fühlen, nimmt er das natürlich freudig in Kauf. Oder, wie Thiel es selbst sagt: "Ich würde mich freuen, daß das, was ich an den Bildern selber gut finde, auch einen bestimmten Stellenwert für andere hätte, daß die Leute das auch sehen. Man muß die Strukturen, die Kämpfe im Bild sehen. Das man um ein Bild kämpfen muß!"
So könnte es gehen...


Rückblende:
Gerade hatte ich Norbert 11:1 vom Brett gefegt. Dieser blutjunge Amateur voller Illusionen ging in dieser Nacht an einem russischen Tischeishockey-Spiel grandios unter. Die Russen bauten ihre Spiele damals wie ihre Raketen. Alles starres Eisen, aber voller Visionen. Norbert Thiel glaubte, er könnte Eishockey spielen. Seine Mutter reiste manchmal ins sozialistische Ausland, sie war früher auch in Moskau unterwegs. Der ganz junge Sohn quengelte, sie solle nicht ohne ein russisches Tischeishockeyspiel wiederkommen. Seit dem war Norbert infiziert. Heute steht dieses Original-Russenbrett aus den siebziger Jahren als rostige Erinnerung in seinem Landhaus. Als Norbert Thiel nach dem Mauerdurchbruch plötzlich wieder in Berlin aufkreuzte, gaben wir ihm eine neue Chance auf dem Eis, inzwischen spielten wir auf modernen, schwedischen Brettern. Dieser Mann ist sehr ehrgeizig, bis heute gewann er bereits 16 mal unsere Meisterschaften. Manchmal kamen nach dem Sport noch Karten auf den Tisch, denn wir sind leidenschaftliche Spieler. Keiner kann verlieren, keiner. Ein schöner, junger Morgen verschönt unsere Schulden. Und dann geht jeder wieder in sein Leben hinaus.

Ronald Galenza (Februar 2006 - Katalogtext)