Häusermeer mit Seeblick
Wie sich die Gegend hier um den Kollwitzplatz in den letzten zehn Jahren verändert hat, kann jeder ganz einfach bei einem kleinen Spaziergang besichtigen. Es sind aber nicht nur neue Lampenläden, Noch Schöner Wohnen, Apotheken oder Kaschemmen jedweder Geschmacksrichtung, nein, es sind ganz besonders auch die Menschen.
Wenn immer mehr Eckkneipen verschwinden, dann verliert der jeweilige Kiez auch ein wichtiges Stück Kommunikationskultur. Im Seeblick kennt und erfährt man jede Menge Lebensgeschichten, Sorgen, Freuden und Probleme von Gästen. Das nervt manchmal, aber dafür sind Wirte und Kellner hier da. Eine Wohnküche mit Sozialamt, wenn man das will. Es geht weit mehr als um Essen und Trinken. Es geht um alles, also das ganze Leben. Nicht immer, aber oft.
Den einen war und ist der Seeblick eine gemütliche Kneipe, Stehbierhalle oder schummrige Weinkaschemme. Einigen fast Wohnung, eine Streitbar oder Diskussions-Destille. Für viele Gäste ein sicher Hafen in unsicherer werdenden Zeiten, ein Anker im Häusermeer. Auch wenn man weit weg war oder lange in der Welt unterwegs, hier her kommt man immer wieder gern zurück. Hier treffen sich ganz verschiedene Menschen und Milieus. Bierkutscher, Rettungsschwimmer und Autoschrauber, Literaten, Maler und Restauratoren, Schauspieler, Politiker und Tagediebe. Stammgäste wie Eintagsfliegen, Zugewanderte und Daheimgebliebene. Die Älteren und Mitteljungen. Ein Kommen und Gehen, hier wurden schon sehr viele verschiedene Biographien am Tresen gesehen.
Es soll schmecken hier, auf Firlefanz wird verzichtet. Es ist eine ehrliche Küche, die manchmal schlicht war, oft labend, manchmal köstlich - aber satt wurde man immer. Und im Seeblick ist das Bier nicht warm oder die Bedienung eiskalt. Hier wurde so manche Nacht scharf gesoffen und gestritten. Geflucht und intrigiert. Gelästert, getuschelt und getrascht. Der Schierlingsbecher aus Worten kreiste. Und später wurde wieder versöhnt, verziehen, geküßt und Sekt getrunken. Die Würfel wurden geschüttelt, Karten gelegt. Später eroberten Schach und Back Gammon die alten Tische. So mancher neuer Tag wurde hier ans Licht geholt. Wir brachten Trankopfer. Man kann diesen Rauchfang kriechend verlassen, oder schwebend. Ein Ort heiterer Unterhaltung, erfreulicher Erbauung, wenn man will, auch der lässigen Gelassenheit. Aber auch: Poststation, bürgerliches Kleinstadtidyll, Gerüchte -Küche, Kiezladen oder einfach nur Tankstelle .
Der Seeblick wohnt in der Rykestraße und die Familie Ryke stellte im 15. und 16. Jahrhundert 5mal die Bürgermeister von Berlin. Und so gibt es auch heute wieder in der Rykestraße zwei ungekrönte Häupter, die sich um ihr Gemeinwesen kümmern. Nicht umsonst hängt überm Eingang ein irisches Brigittenkreuz. Das behütet das Haus und seine Macher vor Unbill, Garstigkeit und Mißgunst. Denn Nerven braucht es schon, diesen Betrieb Tag für Tag und all die Jahre durchzustehen. Danke Brigitte. Danke Hans-Jürgen. Und all die anderen, die hier je hinterm Tresen ein- und ausschenkten.
Jetzt hat diese Kneipe längst ihre eigene Geschichte. Die besteht aus Begebenheiten, Geschichten, Anekdoten, gelebtem, erlebtem und verlebtem Leben. Eben mehr als die Summe der einzelnen Teile. Und genau daraus entsteht der Geist eines Ortes. Gewiß, das ist ein immaterielles Kapital, dafür aber von unschätzbarem Wert. Eine Kneipe als mentaler Verkehrsknotenpunkt des Viertels. Und Geschichte bedeutet immer auch Verpflichtung. Also: macht bitte weiter. Denn: Wir bleiben alle.
Glückwunsch und Danke
R. Galenza zum 13. September 2003, Berlin