Mystery Train - Wie die Eisenbahn laufen lernte
Radio-Feature
- Musik: Tom Waits - "Down town train"
Am vergangenen Donnerstag, dem 14. Juni, wurde hierzulande der "Tag des Eisenbahners" begangen. Als kleinen Gruß an alle Bahner und Zug-Reisenden verstehen sich die folgenden zwei Stunden musikalischer Eisenbahnfahrt. Mit der Bahn gefahren ist ja wohl jeder schon und wer weiß, wie lange es diesen kleinen, speziellen Ehrentag noch geben wird. Mir persönlich macht Zugfahren übrigens richtig Spaß, meistens jedenfalls. Im folgenden gibt es nun lauter kleine Mosaiksteine, Geschichten und Erinnerungen an die gute alte, treue Eisenbahn. Laßt uns also zusammen verreisen, unterwegs sein auf polternden Gleisen und durch rabenschwarze Tunnel. Laßt uns an verwitterten Bahnhöfen halten und verwachsene Abstellgleise erkunden. Wir werden Waggons mit Songs voller in die Ferne rangieren, zwischen die Puffer geraten Lieder vom letzten und vom Trennungszug. Wir überholen den Down Town-Train, erahnen die Mystery Trains, erfahren von Morgen- und verschollenen Nachtzügen, von Leidens- und Freiheitszügen und wir begegnen Zügen voller Einsamkeit unterwegs nach nirgendwo. Unser Signal steht auf grün.
- Musik: The Montgomerys - "Train, train"
- Musik: Red Lorry Yellow Lorry - "Last train"
Sprecher 1:
Stell dir vor, du liegst irgendwo im Gras, nahe eines Bahndamms, mit deiner Kamera in der Hand. Du wartest auf diesen erhebenden Moment, wenn ein Zug wie ein heransausender Pfeil durch die Landschaft zischt, die Luft zerschneidend in kleine Wirbel und Winde. Das ist der Moment, in dem du abdrückst und hoffst, die richtige Sekunde erwischt zu haben: wenn das Gesicht der Lokomotive dich anstarrt und das ganze Bild ausfüllt. Wenn ihr kraftstrotzender Körper einem Kondenzstreifen gleich am Horizont entlang rauscht.
- Musik: The Pogues - "Night train to Lorca"
Sprecher 2:
Als der Berichterstatter des "Stuttgarter Morgenblatts" seinen Lesern die Eröffnung der ersten deutschen Dampfeisenbahnlinie am 7. Dezember 1835 von Nürnberg nach Fürth schilderte, stand er noch ganz im Banne dieses besonderen Ereignisses. Es sei wohl niemand, so meinte er, "ganz ruhigen Gemütes und ohne Staunen beim ersten Anblick des wunderwürdigen Phänomens geblieben". "Jedoch", so fuhr er fort, "folgte das Gefühl des Triumphes menschlicher Erfindungs- und Geisteskraft über die Elemente." Die Lokomotive "Adler" stammte aus England und war bereits die 118. Maschine aus der Lokomotivenfabrik Stephensons. Auch uns umfängt heute noch ein ähnliches Gefühl, wenn wir im Getriebe eines Bahnhofs zwischen blinkenden Schienen, strömenden Menschenmassen und dampfenden Lokomotiven stehen. Es erfaßt einen eine leichte, ziehende Unruhe, die Sehnsucht nach Ferne, wie nah sie auch sei.
- Musik: Crime & The City Solution - "On ervery train"
Sprecher 1:
George Stephenson baute seine erste Bergwerkslokomotive 1814. Zehn Jahre später bekam er die Erlaubnis, eine Eisenbahnstrecke zwischen Stockton und Darlington, England, zu bauen. Die Spurweite der Strecke betrug 1435 mm, und wurde bald zum Standard bei den meisten Eisenbahnen der Welt. Die Eröffnung der etwa 18 Kilometer langen Strecke fand am 27. September 1825 statt und George Stephenson steuerte die Locomotion selbst.
- Musik: Billy Bragg - "Train, train"
Sprecher 1:
In schweren Auseinandersetzungen hatte Stephenson durchgesetzt, daß die Bahngesellschaft den berühmt gewordenen Wettbewerb bei Rainshill ausschrieb, durch den die beste Lokomotive ermittelt werden sollte. Zum Wettkampf wurden fünf Maschinen angemeldet, von denen zwei schon vor Beginn wegen technischer Schäden ausscheiden mußten. Am Start erschienen also drei Loks: die "Novelty" von Braithwaite und Ericson, die "Sans Pareil" von Hackworth und die "Rocket" von Stephenson. Am 8. Oktober 1829 eröffnete im Beisein vieler Zuschauer die "Rocket" den Wettkampf, da ihre Konkurrentinnen noch nicht betriebsfähig waren. Sie legte die Strecke ohne Störungen zurück und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 25,6 Kilometern in der Stunde. Die beiden anderen Lokomotiven erlitten bei ihren Wettfahrten einen Rohrbruch und schieden aus.
Die nächste Strecke wurde 1830 zwischen Liverpool und Manchester eröffnet. Hierbei gab es das erste Eisenbahnopfer, als bei der Eröffnung ein Parlamentsabgeordneter von der "Rocket" überrollt wurde und wenig später verstarb.
- Musik: 14 Iced Bears - "Train song "
Sprecher 2:
Die 1. deutsche Eisenbahn für Personenverkehr mit Dampfbetrieb war die "Königliche Priveligierte Ludwigseisenbahn" von Nürnberg nach Fürth, eingeweiht am 7. Dezember 1935. In der folgenden Zeit entstand nun Gleis auf Gleis. Am 24. April 1837 eröffnete die Leipzig-Dresdener Eisenbahn ihre sieben Kilometer lange Teilstrecke von Leipzig nach Althen. Am 29. Oktober 1838 folgte die Verbindung von Berlin nach Potsdam.
- Musik: Lenny Kravitz - "Freedom train"
Sprecher 1:
Auch international wurde nun eifrig Eisen gegossen, um Schienen zu verlegen und Städte zu verbinden. Am 10. Mai 1869 eröffnete die erste transkontinentale Verbindung in Nordamerika zwischen der Ost- und Westküste wird eröffnet. Die Streckenlänge beträgt von New York bis San Francisco 5.319 Kilometer. Von 1890 bis Oktober 1916: die Transsibirische Eisenbahn (Transsib) wird nach 26 Jahren Bauzeit fertiggestellt. Sie verbindet Moskau mit Wladiwostok über eine Länge von rund 9.300 Kilometer. Sie ist damit bis heute die längste Eisenbahnstrecke der Welt. 1879 wird die allererste Bahn der Welt mit elektrischem Antrieb vorgestellt. Eine Generator liefert den Strom für die Lokomotive. Die Bahn fährt ab 1881 in Berlin-Lichterfelde zwischen dem Bahnhof der Anhaltinischen Eisenbahn und der Haupt-Kadetten-Anstalt.
- Musik: Giant Sand - "Love like a train"
Sprecher 2:
Weil Funkenflug und Ruß die Reisenden stark belästigten, baute man nach 1845 nur noch geschlossene Wagen für alle Klassen. Die Innenausstattung der Waggons blieb aber noch lange ungenügend. Den Einbau von Aborten hielt man für überflüssig, weil die Züge auf den wichtigsten Stationen einen langen Aufenthalt hatten. Auch für Entlüftung wurde nicht gesorgt, an Heizungen war lange Zeit nicht zu denken. Im kalten Winter mußte man sich in eigene Decken und Pelze hüllen. Auch die Beleuchtung war spärlich, später gab es dann immerhin schon trübe Kerzen- und Öllampen. Auch andere Tüftler und Forscher profitieren durch die Eisenbahn. 1895 zeigen die Gebrüder Lumière in Paris einen Film über einen in einen Bahnhof einfahrenden Zug. Sie werden damit berühmt.
- Musik: Heidi Berry - "North shore train"
Sprecher 1:
Zwischen Hoek an Holland und dem schweizerischen Basel verkehrte 1928 der "Rheingold"-Zug. Die Wagen waren teilweise als Salon-Speisewagen gestaltet, von denen zwei durch eine Küche versorgt wurden. Neben zwei Saalräumen für Raucher und Nichtraucher, standen in der 1. Klasse noch geschlossene Abteile mit zwei bzw. vier Plätzen zur Verfügung. Jeder Waggon besaß außerdem ein eigenes Gepäckabteil, dazu einen eigenen Waschraum mit fließendem warmen und kaltem Wasser. Die Fenster dieser violett und elfenbeifarben gestrichenen Wagen waren bis zu anderthalb Meter breit, um einen ungestörten Blick auf die Landschaft zu ermöglichen.
- Musik: Miracle Legion - "Pull the wagon"
Sprecher 2:
Nahe der Stelle, wo 1839 die ersten Reisenden nach Dresden den Zug bestiegen, steht seit einem Dreiviertel-Jahrhundert der Hauptbahnhof von Leipzig. Das ist ein Kopfbahnhof, alle Gleise enden hier. Ein Betrachter empfand im Jahre 1913: "Überwältigend ist die Wirkung der Bahnsteighallen dieses größten Bahnhofs Europas mit dem riesenhaften Verkehr, der sich schon jetzt in ihnen abwickelt. Staunend hängt der Blick an den kühnen Betonbogen des Querbahnsteiges, an der Schönheit der Wartesäle und der Empfangshalle mit ihren großartigen, zweckmäßigen Einrichtungen. Nicht minder eindrucksvoll ist der Anblick der äußeren Architektur, die wohl das Schönste darstellen, was an Bahnhofsbauten bisher geschaffen worden ist."
- Musik: Parachute Men - "Leeds station"
Sprecher 1:
Zur Befeuerung der Lokomotiven wurde in den ersten Jahren ausschließlich Koks verwendet. Er erwies sich deshalb als besonders geeignet, weil er keinen Rauch und Funkenflug bewirkte. Allerdings war die Koksfeuerung sehr teuer, weil das Heizmaterial aus England importiert werden mußte. Einen Ausweg suchte man im Bau eigener Kokereien, aber auch durch die Verwendung von Holz und Kohle als Brennstoff. In torfreichen Gebieten wurde auch Torf zur Beschickung genutzt. Aber der Torf mußte, um ihn trocken verheizen zu können, auf einem Vorratswagen unter einem Dach mitgeführt werden.
- Musik: Element of Crime - "Waiting for the morning train"
Sprecher 2:
Die kleinlichen Vorschriften der Eisenbahngesellschaften wurden peinlich genau überwacht. So wird z.B. über die Leipzig-Dresdener Eisenbahn berichtet, das "jeder Reisende vor Entnahme des Billets sich gegen die eigens zu diesem Zwecke angestellten Polizeioffizianten über seine Person ausweisen, nach Befinden auch seine Legitimation abgeben mußte, die er dann erst von der Polizeibehörde der Ankunftsstation wiedererhielt. Diese Kontrolle wurde auch auf die unterwegs einsteigenden Passagiere durch die die Züge begleitenden Polizeioffizianten ausgedehnt." Hallo Schwarzfahrer von heute!
- Musik: Lolitas - "Dans le train"
Sprecher 1:
Der preußische Handelsminister legte 1851 fest: "Es ist überhaupt darauf zu dringen, daß Personen, welche für demokratische Zwecke wirken, bei der Eisenbahn nicht eingestellt oder im Dienst behalten werden. Es ist darauf aufmerksam zu machen, daß bei der großen Wichtigkeit, welche diese Communicationsmittel erlangt haben, die Staatsregierung in kritischen Zeiten deren Betrieb nicht in der Hand der Privat-Eisenbahn-Verwaltungen würde lassen können, wenn das dort angestellte Personal zum Mißtrauen Anlaß gibt."
Sprecher2: Das ist Demokratie - Langweilig wird sie nie!
- Musik: The Men They Couldn't Hang - "Rain, Steam & Speed"
Sprecher 1:
Seit Beginn des Eisenbahnverkehrs gab es immer wieder Argumente gegen die Lokomotiven und Züge. So wurde behauptet, daß die Eisenbahn nicht nur die Gesundheit der Fahrgäste, sondern auch die der Zuschauer gefährde. Durch den vorüber rasenden Zug könne ein Schwindel hervor gerufen und das "Delirium furiosum" erregt werden. Allen Ernstes tauchte darauf hin die Forderung auf, die Menschen durch einen hohen Bretterzaun vor dem Anblick des Zuges zu schützen. Selbst die Religion bemühte man, um eine Eisenbahn-feindliche Stimmung hervorzurufen. Die Forderung einiger kirchlicher Würdenträger kam prompt: "Da Gott den Menschen zum Ziehen das Tier gegeben habe, sei es vermessen, klüger sein zu wollen als er und den Dampf an die Stelle des Pferdes zu setzen."
- Musik: Die Freunde der Italienischen Oper - "Second train"
Sprecher 2:
Die Eisenbahn, die selbst eine "Revolution" auf dem Gebiet des Verkehrs herbei geführt hatte, die der Bourgeosie bei der Festigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse half, leistete nun auch ihren Beitrag zur Vorbereitung der proletarischen Revolution. Sie half den Kämpfern für die Arbeitermacht nicht nur, miteinander in Kontakt zu kommen und ihre Ideen zu verbreiten, sie hat auch Anteil daran gehabt, namhafte Revolutionäre zu erziehen. Anton Semjonowitsch Mararenko, der große Pädagoge, wuchs in einer Eisenbahner-Siedlung auf und hat dort vor Eisenbahnerkindern seine erste Unterrichtsstunde gehalten. Das Leben im Eisenbahn-Depot zu Schepetowka formt den Schriftsteller Nikolai Ostrowski zum glühenden Kämpfer für die Sowjetmacht. Im Januar 1907 floh der aus Sicherheitsgründen als Heizer auf einer Lokomotive getarnte Wladimir Iljitsch Lenin nach Finnland.
- Musik: Wolfhounds - "In transit"
Sprecher 1:
Vor der Revolution in der Sowjetunion bezeichnete man die Eisenbahn und alles was dazu gehörte, also die Schienenwege, Weichen, Hauptsignale und Lichtanlagen, im Volksmund als "Streifen der Entfremdung". Heute ist diese Redensart allerdings nicht mehr gebräuchlich. Die Eisenbahnstrecken waren in Zeiten der Sowjetunion die "Streifen voll wunderbarer Mechanismen und wundervoller Taten der sowjetischen Eisenbahner". Besonders stolz waren die Menschen der Schienewege darauf, daß die revolutionäre Tätigkeit des Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili mitten unter den Eisenbahnern begann. Stalin berichtet aus dieser Zeit:
Sprecher 2: "Ich erinnere mich des Jahres 1898, als man mich zum ersten Mal einen Zirkel von Arbeitern der Eisenbahnwerkstätten zuteilte. Hier, im Kreise dieser Genossen, erhielt ich damals meine erste revolutionäre Feuertaufe. Meine ersten Lehrer waren die Tifliser Arbeiter."
- Musik: Freiwillige Selbstkontrolle - "Bahnsteig-Walzer"
Sprecher 1:
Nach Zweck und Form unterschied man generell folgende Züge: Last- und gemischte Züge, Eilastzüge, Personenzüge, Courier- und Expreß-Züge, Militär- und Sanitätszüge, Munitions- und Panzer-Züge, Hof- und Luxuszüge. Im Gegensatz zu den Reisezügen, für die ein fester Fahrplan bestand, lag die Einteilung der Güterzüge ganz im Belieben der Bahn. Bei geringem Güteraufkommen wurden mit "Gemischten Zügen" gefahren. Die Eilgüterzüge waren vor allem für den Vieh- und Stückguttransport gedacht.
- Musik: Bob Dylan - "Two trains running"
Sprecher 2:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind tatsächlich zwei inhaftierte Eisenbahn-Enthusiasten dem suggestiven Ruf der Lokomotive erlegen und haben sich im Wassertank einer Lok der gefängniseigenen Bahn versteckt um zu fliehen. Kurz vor dem Ertrinken wurden sie von Wärtern entdeckt und gerettet.
- Musik: Swell Maps - "Ammunition train"
Sprecher 1:
Das Eisenbahnnetz der Erde hatte sich besonders seit den letzten Jahrzenten des 19. Jahrhunderts außerordentlich rasch entwickelt. Umfaßt es 1870 noch 210 000 Kilometer, wuchs es bis zur Jahrtausendwende auf rund 790 100 Kilometer an. Dann verlangsamte sich aber das Wachstumstempo, wie vor allem die entwickelten Industriestaaten bereits eine gewissen Sättigungsgrad erreicht hatten. Immerhin vergrößerte sich das Welteisenbahnnetz bis Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auf etwa 1,33 Millionen Streckenkilometer.
- Musik: Blue Aeroplanes - "Who built this station in the Midwest"
Sprecher 2:
Im Jahr 1913 fuhren erst ca. 100 Elektro-Lokomotiven auf den Strecken der Erde. In den Jahren bis zum 1. Weltkrieg wurde die elektrische Traktion trotzdem versuchsweise auf den Bahnen mehrerer Länder genutzt: in den USA, der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweden und Norwegen. Mit wenigen Ausnahmen handelte es sich um die Elektrifizierung besonders schwieriger Streckenabschnitte. Meist in Gebirgen, wo Dampfloks nur mit sehr geringer Geschwindigkeit fahren konnten. Heutzutage sind die aller meisten Strecken voll elektrifiziert, denn längst gelten E-Loks als ökonomischer und umweltfreundlicher.
- Musik: Railway Children - "Railroad side"
Sprecher 1:
Während die Dampflokomotiven bis zum Ende des 2. Weltkrieges ihren konstruktiven Höhepunkt erreicht hatten und auch die Elektro-Loks in ihre "klassische Periode" eingetreten waren, suchte man neue Wege. Thermische Triebfahrzeuge bewältigten die erste Etappe ihres Einsatzes vor allem auf zwei Gebieten: als Kleinlokomotiven für den Verschiebe- und Rangierdienst sowie als Triebwagen für Haupt- und Nebenbahnen. Nachteilig wirkte sich allerdings bei ihnen aus, daß Dieselmotoren nicht über ihre Nennleistung hinaus belastet werden können, so daß bei hohen Beschleunigungen und Steigungen eine Leistungs-Reserve fehlt. Auch wachsende Umweltbelastungen und Geräusche waren zu berücksichtigen.
- Musik: Felt - "Train above the city"
Sprecher 2:
Ende der Fünfziger wurde den traurigen Heulern der Dampf abgedreht und die unappetiliche Stimme der Dieselpower übernahm das Kommando.
Sprecher 1:
Mein Onkel Erich war viele Jahre hindurch Lokführer, ein richtig alter Ritter der Stahlrosse. Über dreißig Jahre war er quer durch ganz Deutschland gedampft. Er kannte fast jede Strecke und unzählige Geschichten. Später dann, in Pension, fing er an, die Lok-Nummern der alten Eisenungetüme zu sammeln, denn jede Lokomotive hat ihre eigene, wie ein Auto. Er hatte bald ellenlange Listen mit Lok-Nummern bei sich zu hause liegen. Er hoffte immer noch, seine alte Lok, die er "Magarethe" getauft hatte, und auf der er über zwanzig Jahre gefahren war, wieder zu finden. Ihre Rauchsäule ließ sich bei entsprechender Witterung, guter Sehkraft und halbwegs gebügelter Landschaft, schon fast eine Stunde vor Ankunft des Zuges ausmachen, berichtete er stolz. Doch eines Tages war Schluß, gemeuchelt und zerlegt von widerlichen Schneidbrennern. Langsam verschwinden auch die riesigen Kohletürme, das Wasserdepotgestänge und die runden Lokschuppen samt ihren Drehscheiben. Onkel Erich fragte später immer wieder kategorisch; warum braucht man 100 Lastkraftwagen, wenn es auch zwei Züge tun?
- Musik: Nick Cave & The Bad Seeds - "Train long suffering"
Sprecher 2:
Um noch einmal auf den soeben begangenen "Tag des Eisenbahners" zurück zu kommen. An dem "Wettbewerb um das Goldene Flügelrad" von 1959 nahmen alle Eisenbahner der DDR teil. Na klar, ging auch nicht anders. Ziel des Wettbewerbs war es, zu Ehren des 10. Jahrestages der DDR einen "Schwerlastzug der Guten Taten" zu beladen. Der sollte dann an die Partei der Arbeiterklasse übergeben werden. Um die sozialistischen Eisenbahner auch richtig zu motivieren wurde ihnen noch mitgeteilt: "Die sozialisitsche Diziplin unterscheidet sich dabei grundsätzlich von der kapitalistischen Diziplin des Hungers und der Knute!"
Ähm? Ist noch Mittelalter??
- Musik: The Triffids - "My Baby things she's a train"
Wir nähern uns dem Endbahnhof dieser "montags-extra"- Sendung. Na klar, ein Sackbahnhof, keine Weiterfahrt möglich! Wir hoffen, ihr hattet unser Vergnügen an dieser kleinen Bahnfahrt. Natürlich gäbe es noch tausende andere Eisenbahn-Geschichten zu erzählen: von legendälren Überfällen auf die Züge, Schmalspurbahnen, dem Schinkansen, den Eisenloren der Goldgräber, rasenden Lokomotiven in Bahnhöfen, Zügen, die unter dem Meer entlang fahren, Liebe auf dem Tender, dem Leben eines Bahnwärters und und und. Als Lokführer verabschiedet sich für heute Ronald Galenza. Vielleicht treffen wir uns ja mal im Mitropa-Wagen?
Ronald Galenza, Jugendradio DT 64, Sendung: "montags extra" , 18. Juni 1990