Grünauge bleib wachsam - oder: Die mutlose Geschichte vom Kleinstadt-Hero

Radio-Feature


- Musik: The Smiths "Asleep"

Sprecher 1:
Na Stan, da sitzt du nun also wieder zu hause herum und grübelst. Das kennen wir ja schon; alles wie immer.

Sprecher 2:
Ja, ja, wie immer. Ist schon ziemlich spät, weit nach Mitternacht. Stan hockt allein auf seiner Bude und sucht den Mond im Fenster. Aber der kann ihm auch nicht helfen. Er drückt die gelbe Taste vom alten Radio. Aber da starrt ihn wie jede Nacht das Grünauge an, so lange und ausdauernd, so fragend und herausfordernd. Das glotzt immer so stechend, ohne zu blinzeln. Und der Mann im Radio scheint auch nicht seinen besten Tag zu haben, er spielt nur traurige Lieder. Und Stan weiß wieder einmal: überall wäre es jetzt besser als hier.

- Musik: Dream Syndicate "Someplace better than this"

hero.jpgSprecher 3:
Blanker Hohn das alles! Barer Unfug, was die Leute sich da erzählen. Seit Tagen nun schon. Und was sie wieder alles zu berichten wissen. Immer neue Versionen tauchen auf, ständig werden andere Hypothesen aufgestellt. Ohne jede reale Grundlage. Immer drauflos. Und, so behaupten sie ganz offen und unverblühmt, ich sei schuld an dem ganzen Wirrwarr. Purer Unsinn. Reine Infamie. Ich, gerade ich, soll der Schuldige sein? Ha, unglaublich! Wo doch ich es war, der sich seit Wochen bemüht hat, den jetzigen Zustand zu verhindern, ja die ganze unsägliche Entwicklung abzuwenden. Der Dank? Jetzt bin ich das schwarze Schaf. Natürlich. Reiner Undank. Was hab ich nicht alles gepredigt, erklärt, verhandelt, lanciert. Alles vergebens. Damals wollte ja überhaupt niemand etwas von der ganzen leidigen Sache wissen. Nein, das ginge sie nichts an, das sei nicht ihr Problem, da sollen sich mal andere kümmern. Einfach die Augen verschlossen haben die Leute und sich in ihren Trutzburgen verschanzt.
Nun ist das Malheur passiert und plötzlich haben alle eine Meinung.

- Musik: Wolfhounds "Restless spell"

Sprecher 2:
Stan stemmt die Dachluke hoch und schaut über die Dächer der Stadt. Aber wahrscheinlich ist er sowieso der Letzte, der noch wach ist. Außer den paar Hunden, die den Mond und die späten Betrunkenen ankläffen. Und sein Blick wandert unweigerlich auch zu Christins Giebel. Aber der ist nachtblind und sie wird wohl fest und behütet schlafen und wieder nicht von ihm träumen.

- Musik: Einstürzende Neubauten "Sehnsucht"

Sprecher 2:
Stan kommt einfach nicht ran an Christin. Er traut sich nicht, er weiß nicht wie. Dabei schaut sie ihn doch morgens im Bus immer so verschmitzt an, daß er verlegen und ganz durcheinander den Blick senken muß. Wie soll er's bloß anfangen? Aber dann spukt ihm wieder dieser Satz im Kopf herum: - Ich glaube nicht, daß es möglich ist, ein Leben lang allein zu leben. Denn irgendwann braucht man einen Partner, um wirklich allein sein zu können.

- Musik: Crime & The City Solution "All must be love"

Sprecher 1:
Na Stan, läuft wohl nicht so gut bei dir? Bist wohl nicht so gut drauf, was? Aber Stan, was ist eigentlich los mit dir, was ist dein Problem? Hm, ich glaube, du bist selbst dein größtes Problem. Alle ist dir ein Problem. Alles.

- Musik: Nikki Sudden "Don't explain"

Sprecher 3:
Ich fasse nicht. Oder nur ungenügend. Ich fasse völlig unzureichend auf. Oft werde ich gescholten dafür. Aber ich habe mich erkundigt. Mich trifft nicht die Hauptschuld. Es ist begrenzt. Dazu ist es auch noch sehr verschieden. Von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Dabei hängt es von so vielen Einflüssen ab. Ganz verschiedenen Faktoren. Bei mir ist es stark begrenzt. Ich fasse nur schlecht und mangelhaft. Und ich zweifle darin. Es kam unvorbereitet und heftig. Es ließ dann auch schnell wieder nach. So ging es immer eine gewisse Zeit. Nicht sehr angenehm eben. Manchmal spür ich es noch, als ob es wieder kommen wolle. Aber es bleibt doch oft aus. Es ist ziemlich verwirrend.

- Musik: The Triffids "Blinded by the hour"

Sprecher 1:
Komm Stan, laß dich nicht hängen, du kannst es schaffen. Stan, deine Stadt ist klein, dein Zimmer ist klein und Stan, du bist auch nicht gerade groß. Auch dein Freundeskreis ist nicht sehr groß, eher sehr klein. Die Leute kommen einfach nicht klar mit dir. Sie sagen, du seiest eigenbrötlerisch, eigen und seltsam, du verschließt dich. Du lebst zurück gezogen, gibst dich reserviert und scheinbar teilnahmslos. Stan, Stan - du hast einfach keinen Spaß an den Sachen, die die anderen so machen. Komm, Stan.

- Musik: Wolfhounds "Another hazy day"

Sprecher 2:
Stan hat keine Lust auf Fußball und will nicht in die Kneipe kommen. Er langweilt sich auf jeder Disco. Und Lust auf Mädchen? Na ja, schon, aber man sieht es ihm nicht an. Es ist alles so kompliziert und verworren. Da ist ja Christin, aber wie soll er das nur anstellen? Diese Sehnsucht.

- Musik: Bailter Space "Seperate circles"

Sprecher 3:
Ich weiß, ich weiß. Schon gut. Ja ich weiß, daß sie es wissen. Aber wissen sie, daß ich es auch weiß? Das ist doch der eigentliche Kernpunkt dieser Frage. Was wissen sie von mir, von meinem Wissen? Nur darum kann es doch hierbei gehen. Das sie es wissen, weiß doch inzwischen fast jeder, das ist allseits bekannt. Nur, wer weiß, daß es noch andere wissen, wie ich es ja zum Beispiel auch weiß. Ich habe es erfahren. Beiläufig, zufällig fast. Doch das kann kaum einer ahnen. Das weiß niemand, nur ich. Sonderwissen. Aber wer kann es noch erfahren haben ohne mein Wissen? Das wäre schon interessant zu wissen. Für mich auch, schon; aber für sie ganz besonders. Bestimmt ahnen sie schon, daß es außer ihnen noch jemand weiß. Bloß wer, das wissen sie nicht. Vielleicht stoßen sie dann auch auf mich. Doch das bleibt abzuwarten. Wer weiß?

- Musik: The Triffids "Save what you can"

Sprecher 2:
Stan läuft lieber lange und allein über die feuchten Wiesen vor der Stadt oder geht abends auf den alten Friedhof, hinten an den Fernbahngleisen. Da geht es Stan besser. Er geht viel herum, liest sich all die verblaßten Namen durch, die er schon lange auswendig kennt. Er überlegt, wie die wohl in dieser, seiner Stadt gelebt haben. Ob die hier zurecht gekommen sind.

- Musik: Nick Cave & Bad Seeds "Your funeral my trial"

Sprecher 2:
Hinten, nahe dem Eingang der verfallenden Kapelle setzt er sich auf einen Stein; grünlicher, verwitterter Marmor und diese blinde, verblichene Schrift. Der Marmor ist sehr kalt, ihn fröstelt es nach kurzer Zeit. Aber er findet das in Ordnung so, für ihn gibt es keinen besseren Platz in der Stadt. Er würde Christin schon mal ganz gerne mal mit hierher nehmen. Aber er hat Angst, daß sie das lächerlich fände. Sie würde ihn nicht verstehen.

- Musik: Psychic TV "Only love can break your heart"

Sprecher 2:
Gestern kam diese Karte von Tom. Sein guter, alter Kumpel, der den Sprung längst geschafft hatte. Die stimmte ihn wehmütig. Er schrieb:

Sprecher 3:
Neulich erzählt mir jemand von einem Vektor. Ich war erstaunt, denn allzu lange hatte ich nichts mehr vom Vektor gehört oder gar von den Vektoren. Jahrelanges Schweigen lastete auf ihnen. Früher schon, vor einigen Jahren, es sich auch noch nicht so lange her, will mir scheinen, da hörte man noch oft von den Vektoren. Sie waren ja in aller Munde, Tagesgespräch sozusagen. Ich hatte sie aber inzwischen fast vollständig vergessen. Doch dann treffe ich diesen alten Bekannten, wirklich purer Zufall, und dieser Mensch weiß mir sehr aktuelle Neuigkeiten vom Vektor zu berichten. Wie gesagt, ich war zuerst ein wenig überrascht, verständlich nach so langer Zeit, aber nun bin ich doch recht interessiert an den Neuigkeiten über diesen Vektor. Jetzt frage ich sogar schon meinerseits die Bekannten nach Nachrichten über den Vektor. Ganz unaufdringlich und leichthin natürlich, mehr so in Andeutungen. Aber ich würde schon gern etwas mehr erfahren über den Vektor.

- Musik: Flowerpornoes "Jesus Patchouly abortion"

Sprecher 2:
Tom hat es geschafft, er ist weggegangen, abgehauen aus diesem Kaff. Er hat sich entfesselt und ist seinen eigenen Weg gegangen. Nun lebt er in dieser großen, fernen Stadt und kennt eine Menge Leute dort. Aber Stan ist noch hier und weiß nicht so recht wohin und wie weiter. Tom war sein einziger richtiger Freund. Aber wie viele glauben noch an die wirkliche, echte Freundschaft zwischen Männern? Es ist doch nur die grelle, magnesiumhelle, oft unbewußt bleibende Angst vor der Einsamkeit.
- Musik: Local Moon "Calling me home"

Sprecher 2:
Tom hatte auf einmal gesagt, komm mit Stan! Das hier ist das Letzte, dein Ende, diese Ödnis der immergleichen Schatten. Das hatte Tom auf dem Friedhof gesagt, genauso: diese Ödnis der immergleichen Schatten. Vielleicht bin ich längst auch nur noch so ein Schatten, dachte Stan.

Sprecher 1:
Ja Stan, vielleicht wäre dort in dieser großen, grauen, dich erschreckenden Stadt alles anders für dich. Aber wohl nicht leichter, Stan.

- Musik: The Band of Holy Joy "When stars come out to play"

Sprecher 2:
Er hat Tom seine Texte geschickt, alle. Schon sonderbar, dieser große, schwere Umschlag, in dem all seine Hoffnungen liegen. Diese Hoffnung steckt man einfach in einen viereckigen, gelben Metallkasten und wartet. Wartet auf was? Auf Antworten oder neue Fragen?

- Musik: Die Vision "The vision"

Sprecher 2:
Von Tom kam keine Antwort. Nur Schweigen. Und Stans Sehnsucht wurde zu Angst. Zu einer Angst vor einem Urteil. Einem endgültigen.

- Musik: Lydia Lunch "So your heart"

Sprecher 2:
Dabei hatte Tom doch so getönt, bei ihrem letzten Treffen. Alles klar, Stan! Ich regle das. Ich kenne die wichtigen Leute, auch die beim Verlag, wir gehen zusammen Kaffee trinken. Kein Problem, ich kümmer' mich. Die suchen doch genau so was. Klar Stan, dann bist du voll drin im Geschäft, kommst hier raus und wirst richtig bekannt. Jeder kennt dich dann und du kannst endlich aus diesem mutlosen Kaff abhauen. Tom machte eine neue Flasche auf und alles schien klar, so einfach und leicht. Stan ging es richtig gut an diesem Abend.

- Musik: Nick Cave & Bad Seeds "Sad waters"

Sprecher 3:
Ich bin der Schellenkönig! Lobet mich über den grünen Klee. Labt euch am Klang des Wortes, lechzt nach dem Titel. Preiset mich! Seid eifersüchtig, seid ehrfürchtig. Denn ich bin der Schellenkönig. Haltet Andacht oder sinnt auf Intrige; nichtsdestotrotz: Der Schellenkönig bin ich. Ha, wie die Neider geifern. Der Speichel der Wut tritt schaumig in die haßverzerrten Mundwinkel. Aber staunet nur. Der soll der Schellenkönig sein? Wie mich eure ungläubigen Gesichter freuen. Dies hilflose Umherblicken von Mann zu Mann, das heimliche Getuschel. Das hilft euch nicht. Ich bin der Schellenkönig. Nun ist nichts mehr rückgängig zu machen. Diese Runde habe ich gewonnen. Hab euch alle aus dem Feld geschlagen. Mein Name prangt ganz oben, an erster Stelle. Gegen euer Unbill, gegen all euren Unwillen. Vor euch steht der Schellenkönig. Berauscht euch daran, seid trunken ob der Kunde. Der Sieg ist mein. Die Spannung ist gelöst, der Druck genommen. Alles ist nun wieder einfach und in seiner Bahn. Ob ihr nun Freund seid oder erbitterter Widersacher - ich bin der Schellenkönig!

- Musik: The Band of Holy Joy "Who snatched the baby?"

Sprecher 2:
Aber Tom hat sich einfach nicht mehr gemeldet, eine verdammt lange Zeit nicht.

Sprecher 1:
Na Stan, genau das hast du doch geahnt, was? Warum rufst du ihn nicht einfach an oder fährst in die große Stadt? Hast wohl Schiß, Stan?

- Musik: Crime & The City Solution "On every train"

Sprecher 2:
Stan fragt sich immer wieder, warum bin ich überhaupt noch hier, warum mach ich das alles noch? Wozu? Für wen? Vielleicht für Christin? Aber die las ja seine Sachen nie. Er traute sich einfach nicht, sie ihr zu zeigen. Dabei schaut sie immer so... Stan weiß nicht. Er wollte ihr die Sachen ja einfach mal so in den Briefkasten stecken, aber dann fände sie womöglich zuerst ihre Mutter. Oder Christin gefielen sie gar nicht. Dieses Bangen. Diese Blamage; lieber nicht. Dann lieber hoffen.

- Musik: Perfect Disaster "Down (Falling)"

Sprecher 1:
Aber Stan, worauf denn und wie lange? Ich weiß, du hast schon oft überlegt, einfach mal mit in die Kneipe zu gehen, Karten spielen, nicht soviel grübeln. Dann wäre alles einfach und klar. Aber Stan, dann denkst du dir, warum sollst du dich nicht einfach weiter belügen. Nur so bist du eins mit dir und begreifst alle echten Wahrheiten der Welt. Aha. Ach so.

- Musik: Weatherprophets "Never been as good"

Sprecher 2:
Es klingelt. Was, so spat noch? Wer ist das wohl? Er eilt aufgeregt die stumpf gescheuerte Treppe hinunter und öffnet die schwere Holztür. Was? Wie? Was? Vor ihm steht Christin! Wirklich und wahrhaftig Christin. Sie umarmt ihn kurz und gibt ihm hastig einen Kuß. Und sagt im in stammelnden Worten, daß sie sich verabschieden will. Sie zieht morgen in die große Stadt zu Tom.

- Musik: Swans "Our love lies"

Sprecher 2:
Stan schleppt sich mühsam die Treppe hoch, trinkt apathisch sein Glas aus. Es ist sehr still jetzt. Diese brüllende Stille. Nur das grüne Auge des Radios stiert ihn ganz unverhohlen an. Grünauge - hab einen Blick auf Stan.

- Musik: Skin "Turned to stone"

Ronald Galenza, Jugendradio DT 64, Sendung: "montags extra" Oktober 1989