Italien
Das Akkordeon sang leise. Der jahrhundertealte Mann spielte nur zwei Melodien, immer wieder. Wir
frömmelten. Palmengesäumt, unter einem azurblauen Baldachin, ruhte gelassen die sternenweiße
Chiesa di Santa Maria. Im Dunkel der kleinen Kirche spendeten wir eine fahle Kerze für die heilige
Madonna di Navigatori. Kantige, wettergestählte Kerle kehren hier ein und werden ganz mild und bitten
um Beistand. Ich sah stille Tränen. Denn die heilige Madonna in Chipiona ist die Beschützerin aller
italienischen Seefahrer. Das angstharte Stakkato der unzähligen Taubenflügel verhießen allerdings
Unbill und Ungemach. Viele sahen sich um. Ein reiterloses Pferd flog vorbei. Wir spürten Schatten.
Neapolis fakelt im falschen Schein am Horizont. Proteus, der „Alte vom Meer“, ein früher Meeresgott,
wachte über den Golf von Neapel. Aber der Meister der Verwandlung versuchte den immerwährenden
Fragen zu entkommen. Warum, im Namen des Heilands, gingen die antiken Städte Pompeji,
Herculaneum, Oplontis und Stabiae gingen im Jahr 79 nach Christus verlustig? Hoch oben, am
Kraterrand des Vesuv, im Angesicht der dämonischen Kräfte, schwieg Gott endlich. Unendliche Stille
senkte sich über den Golf von Neapel und die Ruinen Pompejis. Flammendes Abendrot färbte die Ziegel
und Pfade der Menschen, ehe hundertfaches Gehupe der ausschwärmenden Vespas und Mopeds die
Nacht vertonte. Im Schlammwasser unter dem hölzernen Touristensteg verwandelte sich Hoffnung in
Illusion. Die feinen Dolche der Nacht lauerten auf Gerüchte. Wir brachten Trankopfer in einer endlosen
Nacht. Und sind trotzdem wieder erwacht. An anderen Ufer der Welt.
© R. Galenza