Indien
Immer wieder Feuer. Immer wieder Licht. Und immerwährender Krach. Wir erreichten
eine der ältesten Städte der Erde: Varanasi, der Stadt des Todes. Mark Twain beschrieb
sie als zweimal so voll und dreimal so laut wie die Hölle. Endlich stehen wir an Mother
Ganga - der heilige Fluß der Hindus. Der heilige Fluß als kloakige Brühe. In jedem
Tropfen Wasser wimmelt es nur so von Cyaniden, Arsenen, Blei, Zink, Chrom und
Quecksilber, von Exkrementen und Leichenresten, von Milliarden Cholera- und
Typhusbazillen. Selbst Malaria erregende Moskitos brüten dort nicht mehr. Die Wasser
des Ganges werden auch Amrita genannt, übersetzt etwa „Nektar der Unsterblichkeit“.
Eine echte Sehenswürdigkeit.
Wir landen am Manikarnika Ghat (dem Verbrennungs-Ghat), das wichtigste Freiluft-
Krematorium der Stadt. Wer hier stirbt und im Ganges bestattet wird, durchbricht den
quälenden Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt und erlangt sofort Moksha, die endgültige
Erlösung. Viele Inder kommen nur hierher, um zu sterben. Über allem liegt ein Schleier
von Krankheit und Tod. Und vor uns Berge aus Holz vom Bodh Gaya-Baum und Zeder.
Gehen bis auf zwei Meter an einen brennenden Holzhaufen heran, man erkennt noch gut
die mit Tüchern umwickelte Leiche. Eine kleine Frau. Verstörend. Am Manikarnika Ghat
werden täglich bis zu 200 Leichen öffentlich verbrannt. Die Angehörigen müssen hundert
Kilogramm Holz besorgen, die Leiche in ein Tuch oder Folie wickeln, Träger finden, die
Bestatter bezahlen und hoffen, dass sie bald an die Reihe kommen. Die Leichenbestatter
arbeiten in Schichten, meist von früh morgens bis spät in die Nacht. An besonders
hektischen Tagen verbrennen sie sieben Leichen gleichzeitig.
Drei bis vier Stunden kokeln die Leichen, ehe sie Mata Ganga, der „heiligen Mutter
Ganges“ übergeben werden. Schon wird eine neue Leiche herbei geschafft. Sie wird aus
Goldpapier gewickelt, Schnüre entfernt. Auch dieser schmale Körper ist noch mit Tüchern
umwickelt und wird auf einen anderen glimmenden Holzhaufen gelegt. Zuerst wird der
Kopf berührt, dann umrunden die Verbliebenen den toten Körper. Erst dann wird der
Leichnam entzündet. Im Moment brennen fünf, sechs Leichen, am Nachmittag sollen es
deutlich mehr sein. Für Nachschub an Toten ist jederzeit gesorgt, denn hinter den
riesigen Holzbergen steht das übervolle Sterbespital. Verstorbene hinduistische Kinder
oder Priester aus Glaubensgründen werden allerdings niemals verbrannt, stattdessen
versenkt man ihre Leichname, mit einem Gewicht beschwert, im Fluss.
Schauergeschichten von wieder an die Oberfläche gespülten Leichen liest man in quasi
jedem Reisebericht über Varanasi. Es riecht übel nach Verderben und Vergängnis in der
von Shiva gegründeten Stadt des Lichts.
Man sieht sie überall im knallbunten Varanasi: Sadhus. Manche haben sich von Kopf bis
Fuß mit Asche eingerieben und sind, wie es in den Schriften heißt, „mit dem Unendlichen
bekleidet“ – also nackt. Viele dieser heiligen Männer verharren reglos in kaum
nachvollziehbaren Yoga-Positionen auf dem Boden. Und wieder andere Sadhus graben
sich am Flussufer in selbst geschaufelte Erdlöcher ein, so dass nur noch ihr Kopf heraus
schaut. Die stolzen und schweigsamen Sadhu haben sich einem religiösen, teilweise
streng asketischen Leben verschrieben und das weltliche Leben völlig aufgegeben. Sie
sind Anhänger des Gottes Shiva und befinden sich in der vierten und damit letzten Phase
des vedischen Ashrama-Systems. Diese Asketen versuchen durch ihren Lebensstil
möglichst wenig Karma, das Resultat vergangener Taten, anzuhäufen und sich
letztendlich durch absolut strenge Askese von jeglichem Karma zu befreien. Wenn dies
gelingt, sind sie eins mit Gott und befreit vom ewigen Kreislauf von Tod und
Wiedergeburt. Sie und bestreiten ihren Lebensunterhalt von Spenden und wirken
manchmal etwas unheimlich. Eben aus der Zeit gefallen. Sie werden von den Indern aber
sehr respektiert.
Am Abend wir staunten nicht schlecht, Überraschung am lärmenden Ufer. Höhepunkt
jedes Tages ist ein allabendliches Ritual, das den Göttern gewidmet ist und bei dem es
jede Menge Feuer, Musik und Gesänge zu bestaunen gibt. Jeden Abend findet das Ganga
Aarti Ritual am Ufer des Ganges statt. Um der Göttin Ganga zu huldigen, bringen die
Gläubigen ein rituelles Feueropfer. Sie setzen ein kleines Licht und ein paar Blumen auf
ein Schiffchen und setzen das auf den Fluss. Dabei findet eine choreographierte
Zeremonie am Dasaswamedh Ghat statt. Junge Religionsgelehrte, Pandits, blasen auf
Meeresschneckenschalen und schwenken Räucherstäbchen und große Feuerlampen. Ein
beeindruckendes Spektakel. Überall wuseln Babas, Brahmanen, Kinder und Verkäufer,
die ihre Chance wittern, Segnungen, Kerzen und Krimskram an die Besucher zu bringen,
um ein wenig Geld zu erhaschen. Langsam versinkt eine alte Sonne, die für das Leben,
den Kreislauf des Lebens und die Quelle aller Kräfte steht.
© R. Galenza