Der Saum des Gesandten – Engelstrompeten

Wir lagen vor Kolberg, Pommern. Gneisenau hatte hier standgehalten, Schinkel gemauert. Der alte, handgebackene Leuchtturm war dick und moosig geworden. Aber er hielt und leuchtete fast blind in die uferlose Nacht. Hier schlug jeder auf jeden ein: Sachsen, Dänen, Preußen, Schweden, Hitlers Horden, Russen und Polen. Der Strand leuchtet unschuldig. Wir wollten nicht sarkastisch sein, ein Knattern und Flattern im ewigen Wind. Wir waren splitterfaser.

Waren das die angekündigten, immerwährenden Boten? "Angelos" - die Ausgesandten. Aber wer sendet da? Auf welcher Frequenz? Der unserer Herz-Rhythmus-Störungen oder auf der Ostsee-Welle? Oder etwa Gott - abgründig, verlogen, dunkel? Wir ahnten die Versuchung um Abbitte. Es hagelte beschwichtigende Dementis. Aber wir wußten Bescheid: Lichterlebnisse, Schreckensschauer, Erhabenheit, Märchen, Abstraktion, Visionen und Fetisch - Die Engel waren angekommen. Tach ihr! Unsere grindigen Fransen grinsten.

Wir hingen ab und ließen alle fünfe grade sein. Im Hafen lungerte Militär; wehe wenn der Este loslegt, das kleine Polen anzuzünden. Wir vernahmen den Wellenschlag des Unendlichen am flüchtigen Sandstrand unseres Seins. Einige wurden gestreift, manche haschten. So viele Dimensionen, trotzdem wagten wir einen Blick durchs Schlüsselloch in die Wirklichkeit. Das war nicht schön. Ein beeindruckendes Kaleidoskop der Möglichkeiten und der Verachtung. Wir verzettelten uns lebhaft, aber die flying force, diese Seelenheil-Staffel, war nun mal da. Wir fielen aus allen Wolken und gelangten zu den Gottheiten Ägyptens, Griechenlands und Babylons. Die Schwellkörper neben uns wiesen nicht darauf hin, plötzlich waren wir wieder allein. Ist das antik oder längst vorbei? Jede Zeit ist stolz auf ihre Freiheiten und Zwänge. Der oberste Lichtgott Marduk floh vor dem Erzengel, welch ein Schauspiel. Polnischer Wodka verhieß Erlösung und Kopfschmerzen. Die Gestirngötter wurden "Lampen", wir kamen uns helle vor. Wir wähnten uns sicher im Saum des Gewandes, die Brandung leckte unsere Seelen. Wir übten uns in Batik.

Fühlten uns wie Umscharte, die Sterne standen Spalier. Waren das die Scharen des himmlischen Heeres? Wir versuchten es rational, mit Systematik und Anlalyse. Staunen und Verwunderung lagerten zwischen uns. Wie wunderbar - miraculoso! Wir beklagten die ersten Verluste in der Baltischen See, dunkle Todesengel - angelo della morte - breiteten ihre düsteren Schwingen über das Nachtmahl. Ihre blinden Schatten hatten nichts Tröstliches. Hilflos irrten wir am Strand umher, auf der Suche nach Antworten. Plötzlich mischten die Kerube mit, wir wollten nur frei sein und trinken, aber die Serafe legten plötzlich Berufung ein. Flügel verhießen Schweben und Leichtigkeit, die in unseren klammen Schlafsäcken lungerte. Wir schämten uns still für die fehlende Souveränität. In all der engelsgleichen Wirrnis gab es keinen Trost. Schmissen mit russischen Pelzen um uns, die Rubel glühten.

Wir ergingen uns in vergeblicher Scholastik, so gewinnt man keinerlei Frau oder gar Erkenntnis. Die Engel blieben undefinierbar, aber anwesend. Hilfreich und unermüdlich für was? Wir hatten uns längst aufgegeben, jeder kochte sein eigenes Süppchen. Einige waren inspiriert, andere ängstlich, wie das Menschlein eben so ist. Manche waren empfänglich für die fremden Schwingungen, andere verlangten nach Erklärungen. Für die scheppert es drei mal täglich von jedem Kirchturm. Gottes Ruf ereilt nicht jeden, so schickt er seine Boten aus an die Einsamen, Hilflosen, Verlassenen und all die, die sich nach jedweder Resonanz sehnen. Wir sollten empfänglich bleiben. Unterm Wams.

Aber: können Engel singen? Der Himmel als gigantische Philharmonie der Verheißung und Erlösung? Ein immer währendes SingSang von unentwegten Massenchören? Solide Solisten und diaströse Diven? Pauker & Trompeten. Fragile Fagotte und harpunierte Harfen? Gewaltiges Rauschen auf zeitloser Frequenz. Völker hört die Signale! Jeder sein eigener Empfänger? Oder Empfängnisverhütung! Die Engel, die kleinen Biester; als Transistoren? Volksempfänger? Was ist der Quellkode? Aber: Die Boten der schlechten Nachricht werden gehenkt.

r. galenza 03.09.2002