Blinde Fenster aus Worten

Wir waren die Überlebenden des letzten Tages, auf der Flucht vor uns selbst. Wir richteten uns in der ewigen Knochenmühle des Alltags ein. Ein Tag im All. Gefangene der Equinox. Die herbstliche Langeweile der Atomuhren-Betreiber. Willkommen im Polyversum, Willenloser! Wir brachen mit den Traditionen jeder neuen Jahreszeit: Maiglöckchen riefen die Hirten, Holunder spendete Blut für die leprösen Leberkranken einer gemeinsamen Jugend. Raps rappelte im Karton und in den Rapollo-Verträgen. Lupinen lugten lasterhaft in die Legislaturperiode. Die Libellen lutschen Lachs, die Stromschnellen trieben Schabernak.

Die afrikanischen Störche kreisten schwanger über empfangsbereiten Feuchtbiotopen und klammen Auen. Eule, Iltis und Auerhahn gründeten flugs den Dreierbund und vagabundieren durch das nächtliche Dreieck der Begierden. Ihnen begegneten schwule Pfarrer, heiße Nonnen, kinderschändende Kaplane, heißblütige Abtissinnen, ehebrechende Bischöfe, karmelitische Küster, verklebte Vikare und orgiastische Oberhirten. Die waren sabbernd in strahlenden Sternen-Karossen unterwegs, Tugend und Anstand predigend, Zucht und Ordnung. Sie wähnten sich dem Himmel nah und den Geboten. Last Exit: Fegefeuer! Gottlose Früchtchen einer Miß-Ernte. Infantilität brach sich Bahn in Messen und Medien.

Wir sangen unsere Liturgien des Sommers in den unendlichen Weiten der Kornfelder, kühlten uns im störrischen Mais und ruhten im segensreichen Schatten buckliger Baumalleen. Wir tranken Seerosen und Blaualgen, balgten uns blau in den Magnolien um die auslegbaren Gebote der Verbote. Wir nährten uns von der Nehrung der Flüsse, als könnten wir alles haben.

Wir sahen Gespött und Mißgunst auf den Leinen flattern. Lüge und Laster paarten sich in den sommerheißen Scheunen. Der Neid fuhr die reiche Ernte der Besserwisserei und all des Hochmuts ein. Wir wußten es besser und suchten trunken Trost im Heu der Begierde. Luzifer, bist du das? Orgelwund streunten wir durch glühende Kirchen und Dome. Wir kühlten die Wunden im Weihwasser. Die Kollekten und Waschweiber darbten in der Mittagsglut wie Backstein. Raben rappten, Tauben kalbten, die Hornissen wurden horny. Im ewigen Holz der Gottes-Kemenaten gammelte Vergangenheit, wir setzten uns dazu. Jeder Balken ein Verweis, jede Schindel ein Zitat. Wir lachten, bis sich die Balken bogen und die Schindeln schwindelten. Wir verdufteten im Weizen.

Ich ging als Köhler und Lichtmacher. Versprach Erleuchtung und ewiges Licht für alle! Kannte jedes Feuer, Fackelaufzüge und Lichtbogenfeste. Spendierte reichlich Feuerräder und Wundbrand. Sah die gleißenden Explosionen über Sizilien, die Feuerfeste von Neapel, die Glühwürmchen der Bretagne. Weltweit Verwandte. War ich endlich erleuchtet? Der Heiland war da! Brachte Heil über Holland, Honduras und Heiligensee. Hossa! Hektisch entrichtete ich Hanf an all die Haltlosen. Sie erfuhren Höllenqualen und das Sündenbabel. Ich stellte nebulöse Schriftrollen auf Genesung und Heilung aus und verschwand ungesehen in der Ferne. War Eroberer des Nutzlosen und die Genese war Käse.

Auf dem Knüppeldamm der Erkenntnis erreichte ich in völliger Dunkelheit den leuchtenden Pfad. Fühlte mich geborgen und angekommen. Reine Hingabe statt Liturgie und Abbitte. Der endlose Singsang aller Zeiten. Ich flehte und floh. Rächte mich in vatikanvioletten Kutten an der Fleischeslust. Sündigte. Genoß und praßte. Redete wirr und wider. Alles war falsch, verlogen und wahr. Was war der Sinn? In wessen Namen? Zölibatäre Linguisten auf dem Weg zu sich selbst. Lügenbarone und Phrasendrescher im Schlepptau. Ich verduftete im Mehltau. Die Sonne blinzelte morgenblind, die See brandete mutlos herein. Ich stapelte tief und verpfiff mich.

r. galenza 08/2002