Laßt uns Heimatlieder singen! - 50 Jahre „Melodie & Rhythmus“
Berlin, Kalkscheune – 2. Oktober 2007
Berin-Mitte im Oktober. Es war so mittelkalt. Die einst einzige Musikzeitschrift des Ostens feierte in der Kalkscheune ihren 50. Geburtstag. Ich hatte von 1985 bis 1989 für die einige Artikel geschrieben. Über Bands wie Reform, Feeling B, Pankow oder die anderen bands, die Überlebenden werden sich erinnern, vielleicht. Ich kam zu spät, hatte so Bobo In White Wooden House solo akkustisch versäumt. Na ja, erklärten mir die Auskenner, die zu früh gekommen waren. Alles kann man ja auch nicht haben. Dann aber, schön dass ich das noch erleben durfte: Rockhaus live. Ich hab diese Band seinerzeit sogar gemocht. Aber nie live gesehen. Also nicht alles, aber manches. Sie hielten sich strikt an Grebes Motto und gaben ihre Volkslieder wie „Bleib cool“, „Träumen“, „Mich zu lieben“. Fetzig! Und unverzichtbar und unaufgefordert ihren größten Hit „I.L.D.“ Textsicheres Publikum übrigens. Selbst die Jungend von heute wußte Bescheid. Eine seltsame Euphorie.
An diversen Freiflächen waren alte „Melodie & Rhythmus“-Cover platziert, eine Zeitreise ohne Erinnerung. Es war eh ein Abend der Gesandten. Pankow und Silly waren fast komplett da, City nur zur Hälfte, von Engerling nur der Manager. Dafür aber die Sänger von Freygang und die anderen. Dazu Ex- und aktuelle Journalisten, man kennt sich halt, für ein Hallo reicht es immer. Ebenso umtriebige Zeitzeugen, lange Haare & Bärte, grau gewordene Fans, aber auch überraschend viele junge Menschen voller Melodien und Rhythmus. Ob das aber die Kinder der Alten waren, hat einem ja niemand erklärt. André Herzberg kündigte mir vorab schon die „Klo-Band“ an. Auf meine Nachfrage, wen er den meine, meinte er lakonisch: na die, die immer mit Kacke spielen. Ah! Konnte sich also nur um Knorkator handeln.
Als „Überraschungsgäste“ fungierten eben jene Knorkartor. Nachdem sie „Highway to hell“ von AC/DC zertrümmert hatten, ging es um die Wurst. Im wörtlichen Sinne, den nun rockte Fäkalsprache das Haus, u.a. der Mann, der mit dem Arsch essen kann. Neben derben Publikumbeschimpfungen, („Mach doch mal deine HipHop-Arme auseinander) glänzte Sänger Stumpen noch beim überzeugenden HipHop mit seinem Reißverschluß. Gitarrist Basti hockte wissend mit Kinder-Sonnenbrille über seiner Akkustischen. Das kam derb, aber knackig. Fanden aber wohl nicht alle lustig. „Ihr Ostler!“ Die träumenden Trunkenen schon.
Das Motto des Abends hatte Rainald Grebe gekonnt ausgegeben: „Laßt uns Heimatlieder singen!“ Dazu performte er mit seinen beiden Mitstreitern einen dadaistischen Stirnfunzel- Veitztanz. Unter spastischen Zuckungen sang er: Die Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, er trank die Saale leer, lobte die Spree, verschmähte aber den Rhein, oh nein, nein, nein. Anschließend forderte er: „Reich mir mal den Rettich rüber“. Als er dann seinen All-Time-Klassiker über das schöne Land Brandenburg anstimmte, gab es im Publikum kein Halten mehr. „Wenn man zur Ostsee will muß man halt durch Brandenburg…“ Danach beschwor er traurig noch, daß er massenkompatibel und einsam sei. Feuerzeuge verdimmten. Seine Songs sind durchaus lustig, aber viel zu lang. Wirkte auf mich etwas Funny van Dannenesk. Aber der hat schon was, ich weiß aber noch nicht was?
Die schönste Musike des Abends passierte allerdings auf der Herren-Toillette. Seeeds „Dickes B von der Spree“, „Trouble“ mit Coldplay. Das klang wie Erleichterung. Die Sterne fragten ungefragt: „Was hat dich bloß so ruiniert?“ Das hab ich mich uriniert dann allerdings irgendwann auch gefragt. Norbert Leisegang von Keimzeit hatte zwei Kollegen dabei, eine Gitarrenmann und den kleinen Trompeter. Angenehm leise, legten sie mit „Singapur“ vor. Ich wurde dann allerdings auf dem Hof in diverse Gespräche verwickelt. Aber drinnen war es bestimmt schön…
Als letzte Band des Abends: Sandow. Auferstanden aus alten Streits, wirkten die Jungs am professionellsten und lautesten. Alle in schwarze Anzüge gekleidet, zündeten sie ihre schwarze Sonne an. Chris Hintze und Kai Kohlschmidt wirken inzwischen kahlrasiert wie buddhistische Mönche. Die ersten Songs gingen live eigentlich gar nicht, sehr anstrengend.
Aber dann: Kohlschmidt dramulierte mit seine diabolischenTeufelsaugen und einer Art verschlüsselter Gebärdensprache die Songs. Eine Bratsche sorgte für spannenden Dramatik, ab da wurde es richtig gut und fesselnd. Sie holtzen die neuen Songs ihrer gerade erschienen CD in den immer leerer werdenden Saal. Unglaublich und ganz unerwartet, befeuerten sie die wahren Fans doch noch mit ihrem Wende-Hit „Born in the G.D.R.“ Mit mir war ich immer noch allein. Kurz vor Ende von allem fiel dann sogar noch Dagmar Frederic mit großem Troß in die Feierhalle. Fassungslos starrte sie auf die lauthohen Klangberge Sandows, um nach drei Minuten wieder in die Ungewißenheit der Nacht zu fliehen. Welch ein Moment.
Heimwärts Engel! riet ich mir selber zu. Über einen schrundigen Parkplatz, tirillierte es von der Oranienburger schon, „Hallo Süßer! Ich brauch jetzt aber wirklich einen Mann!“
Okay Zugabe, ein Bordsteinschwalben-Gespräch. Blasen nur mit Gummi macht 50 Euro, sie hätten da auch einen dunklen Platz unter schattigen Laubgewächsen. Aufs Zimmer gehts schon ab 80 Euro, aber alles nur save. Niemand dringt bei irgendwem ungeschützt ein. Das war mit der Musik schon anders. Eine Nacht also voller Melodien, aber ohne Rhythmus. Ich war müde, mir war kalt, der Abend schon alt. Sie wies mich noch auf die Variante „Russisch Öl“ hin. Auf dem Hackeschen Markt blühen grellbunte Palmen in allen Farben. Die blinken sogar. Ach altes Herz. Berlin leuchtet.
R. Galenza, 3.10.2007