TOBIAS RAPP - Lost and Sound
Berlin, Techno und Easyjet
Nach dem Mauerfall lag Berlin da wie eine offene Wunde. Brachflächen, Leerstand, öde Orte. Das machte den Charme der Stadt aus. Einige Freunde besetzten kurzerhand ein leerstehendes Hinterhofgebäude in der Toplage Oranienburger Straße 4. Daher auch der Name „Ophir“. Ein schwarzes Loch aus Beton. Sie wollten leicht schnell viel Geld verdienen. Mit Techno. So legten wir also zwei Jahre die Musik zur Zeit auf, möglichst immer das harte Brett. Manchmal wurde es auch ein kundiges Wettsaufen zwischen Norwegern, Russen und Engländern. Insgesamt zuviele miese Substanzen, zuviel Lärm, zuviel Streß. Faszinierender Höhepunkt an einem 24. Dezember. Wir hatten Unmengen Getränke heran gekarrt, aber die Halle blieb gähnend leer. Ein Fiasko! Bis nach ein Uhr an diesem holy Abend Massen Spanier, Italiener, Dänen, Holländer und Japaner einfielen und den Bunker fast kaputt tanzten. Heute ist Berlins Mitte fertig und saniert. Ich hab mich anderen Dingen zugewandt ...
Techno, so könnte es einem heute vorkommen, hatte sich von einer Subkultur in eine Selbstparodie verwandelt. Die Ur-Berliner Loveparade dümpelt seit 2007 durchs Ruhrgebiet. Tobias Rapp versucht nun mit seinem Buch die Bedingungen der Möglichkeit des Tanzflächenglücks in Berlin zu beschreiben. Er stellt die These auf: „2009 hat die Berliner Clubszene zwei Pole: Am einen Ende kreisen die Parties um Mode, Alkohol und Soziales, am anderen dreht sich alles um Drogen.“
Der Autor arbeitet mit verschieden Erzählsträngen. Als Grundgerüst des Buches steht eine Woche Feiern: von Mittwoch bis Mittwoch. Der Autor definiert die Parties durch den Wochentag, an dem sie stattfinden. Zwischendrin greift er immer wieder verschiedene Aspekte der Party-Kultur auf, wie den Easyjet, das Verschwinden und Entstehen einer Clubmeile, das Schlangestehen vorm Club oder das Wachsen einer gewaltigen Übernachtungs-Kultur in Billig-Berlin. So ist in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Hostel-Betten von 400 auf 18.000 gestiegen. Es ist längst billiger, in Berlin zu übernachten als in Prag oder Budapest. Das zieht die mobilen Easyjetraver aus ganz Europa und weltweit an. Rapp überdreht allerdings, wenn er keck behauptet: „Rom, Stockholm, London und Sevilla sind manchmal eben einfach nur Vororte von Berlin.“ Eine sehr gewagte These. Berlin wird heute von außen mit Techno identifiziert, so daß Leute, die von weit her anreisen, hier auch vorfinden wollen, was ihnen das Klischee glauben macht. Die sogenannte „Hedonistische Internationale“. Rapp schätzt die Raver-Szene auf etwa 10.000 Leute.
Breiten Raum nimmt auch die erbitterte Debatte um das Projekt Media Spree ein, mit allem für und dagegen. Denn davon ist die Dance-Szene mit ihren diversen ehemaligen oder neuen aktiven Clubs am Spreeufer direkt betroffen. Was aber ist öffentlicher Raum, wo beginnen seine Grenzen und wer bestimmt die? Rapp: „Subkultur ist eben nicht notwendigerweise demokratisch, auch wenn sie sich von drinnen so anfühlt.“ Das Spreeufer für alle, geht das?
Natürlich kommen alle wichtigen Läden der Nuller Jahre vor, vom verblichenen Ostgut, Weekend, Golden Gate, Bar 25, Tresor, Berghain, Watergate bis zum Club der Visionäre. Die werden meist grundsympathisch porträtiert. Es fehlt auch nicht der notwendige Rückblick auf die großen Namen der Neunziger: Tresor, E-Werk, WMF, Friseur, Elektro, Deli usw. Denn die Neunziger waren enorm wichtig für die Veränderungen und Erfahrungen der Clubs der Nuller Jahre in Berlin.
Zwischen den lustvollen, authentischen Beschreibungen direkt von der Tanzfläche, stellt Rapp in Kurzporträts und Gesprächen enorm einflussreiche DJs wie Villalobos, Efdemin, Marcel Dettmann, Ben Klock und andere vor. Auch findet man in dem Buch Wortmeldungen wichtiger Aktivisten der Szene wie Christoph Klenzendorf (Bar 25), Steffen Hack (Watergate), Dimitri Hegemann (Tresor), Olaf Kretschmar (Clubkomission), Andreas Becker (The Circus) oder Andrew Rasse (Musican). Aber genauso von Easyjet-Touris und Berliner Feiernasen.
Rapp kümmert sich natürlich auch um die eigenwillige Türpolitik der Clubs. Das reicht vom „Tür-Hitler“ vor der Bar 25 bis zur eisenbehangenen, gesichtstätowierten Queer-Legende Ostberlins, Sven Marquardt, der grimmig das Berghain bewacht. Dabei nerven allerdings die zahllosen Wiederholungen, wie international die Gespräche beim Warten doch sind. Das weiß man nach dem ersten Mal lesen oder aus eigenem Erleben. Eine andere Wahrheit des Nachtlebens: vor den Türen der Berliner Clubs herrscht „soziale Korruption“. Soziales Kapital ist hier die entscheidende Währung der Nacht. „Alle müssen warten, nur die nicht, die irgendjemanden kennen, der jemanden kennt, der einen auf die Gästeliste schreibt. Das ist (…) der einzige Vorteil, den man gegenüber den zahllosen Touristen hat.“ weiß der Autor. Bleibt nach der Finanzkrise abzuwarten, was mit den Läden passiert, wenn nicht mehr halb Spanien oder Italien einreist und Berliner Jugendliche lieber auf der Strasse saufen, weil sie ohnehin nicht mehr in die Club kommen.
Natürlich geht es immer auch ums Tanzen, Mode, Sex und Drogen (die Dealer lässt er lieber in Ruhe). Wer mehr wissen will, wird es schon irgendwie herausbekommen… Dave Turow, russischer Musik-Aktivist in der Hauptstadt, warnt allerdings: „Viele Leute denken, Berlin sei dieses kreative Utopia, so ist es aber nicht. Wenn man nicht diszipliniert ist, kann man sich in Berlin leicht verlieren.“ Rapp stellt die Internet-Plattformen der Szene vor, wie restrealität oder resident advisor, dazu das englischsprachige Magazin Bang Bang Berlin. So gibt es Leute im Ausland Anfang zwanzig, wahnsinnig musikinteressiert, die wesentlich mehr über die Szene wissen als jeder Berliner. Die kennen illegale Clubs eben aus dem Internet. Dazu finden sich Texte über die wichtigsten Berliner Labels (Get Physical, m_nus, Innervisions, Alphahouse u.a.m.) sowie Plattenläden (Hardwax, Melting Point, Rotation Records), denn, so schreibt Rapp: „Jeder Plattenladen ist eine Erziehungsanstalt, ein Geschmacksbildungsinstitut. Der Habitus der meisten Plattenhändler hat etwas von der Mischung aus kleindealendem Junkie und Privatdozent.“ Dazu beschreibt er die Entstehung des inzwischen weltumspannenden Techno-Tools „Ableton Live“.
Letztendlich dreht sich alles um die Kultur des hemmungslosen Feierns mit all seinen Aspekten. Wie schreibt er so schön: „Die Wiederholung macht einen fertig und glücklich.“ Allerdings versteigt Rapp sich auch zu sehr exclusiven Ansichten wie: „Niemand muß hier wirklich arbeiten, außer an irgendwelchen Kunst- oder Musikprojekten, ständig machen neue Clubs auf, und eigentlich ist man nur auf Partys.“ Aha. Schon mal da draußen am Tage in der Stadt unterwegs gewesen?? Zum Schluß empfiehlt der Autor noch die aus seiner Sicht 20 wichtigsten Platten dieses speziellen Berliner Sounds. „Lost and Sound“ ist mit seinen subjektiven Innenansichten kein kritisches Buch, leider auch nicht der Versuch einer Kulturökonomie des sexuell aufgeladenen Nachtlebens. Und es will und kann natürlich kein Lexikon oder gar Geschichtsbuch sein. Heimlich aber wohl doch. Denn Tobias Rapp liebt seinen Gegenstand kompetent und gewährt freizügige Einblicke in durchtanzte Nächte an bizarren Orten.
Electric Galenza, März 2009
Tobias Rapp: „Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset“,
Suhrkamp, 250 Seiten, 8,50 Euro